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Der Spion der Zeit

Der Spion der Zeit

Titel: Der Spion der Zeit
Autoren: Marcelo Figueras
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suchte. Er erinnerte sich, wie bemüht der Verfasser gewesen war, einer Reihe von unwichtigen Informationen Bedeutung zu verleihen. Der literarischen Bildung Van Upps beispielsweise. (Der Ermittler hatte eine Vorliebe für die Texte Shakespeares, die, wie er fand, eine ganze Welt enthielten; der Polizeichef, der sich höchstens mal ein Stück von Agatha Christie im Theater ansah, war der Meinung, Shakespeare und die Polizei seien wie Sonne und Mond und könnten sich unmöglich denselben Himmel teilen.)
    »Das Schlimmste, was passieren kann«, bemerkte der Minister, »ist, dass die Ermittlungen keinerlei neue Erkenntnisse bringen. Dann stünden wir wieder genau da, wo wir jetzt stehen.«
    Dem Polizeichef fiel noch allerhand anderes ein, das schiefgehen könnte, aber er hatte das Gefühl, der Minister wolle nichts davon hören. Die Entscheidung war gefallen. Offenkundig zog die Regierung Möglichkeiten in Betracht, bei denen sie weit Schlimmeres in Kauf nahm, als sich der Lächerlichkeit preiszugeben.
    Mit einem Griff nach der Lampe dämpfte der Minister das Licht. Das Zimmer wurde dunkel bis auf den Bereich, in dem die beiden Männer sich unterhielten. Der Polizeichef lauschte seinen eigenen Atemzügen. Sie kamen ihm unnatürlich vor.
    »Dann sind wir uns also einig«, hörte er den Minister sagen.
    Als er das Büro verließ, war die Vorzimmerdame nicht mehr da. Auch keiner vom Sicherheitsdienst. Der Polizeichef durchquerte ungehindert den Flur und trat auf die Straße hinaus. Er dachte, wenn er ihn vor irgendeinem Gericht beweisen müsste, gäbe es für seinen nächtlichen Besuch keinen einzigen Zeugen.
    VII
    Das Gebäude des Polizeipräsidiums hatte früher als Parlamentssitz gedient. Und zwar während der ersten Zeit der Republik, als die Institutionen noch kurzlebiger waren als die Kämpfe. Unter diesen Umständen schien es sinnvoll, die Rückseite des Gebäudes auf das Meer hin auszurichten. Drohte eine Revolte, musste man nur hinunter zum Kai gehen, ein schnelles Schiff besteigen und Kurs auf ein Nachbarland nehmen. Auf Höhe des Meeresspiegels lagen die Labore. Die Büros der Angestellten waren auf die Zwischenstockwerke verteilt. Nur das Büro des Chefs befand sich im obersten Stock.
    Zehn Jahre lang hatte Kommissar X die Abteilung Sechs geleitet. Sie bestand aus zwanzig Männern und Frauen, die er aus den Absolventen der Polizeischule ausgewählt und nach drei ebenso fragwürdigen wie beklemmenden Prinzipien gedrillt hatte.
    Das erste lautete: WER IN DIESES KOMMISSARIAT EINTRITT, LASSE ALLE HOFFNUNG FAHREN, in Anlehnung an das Zitat, das über den Toren der Hölle prangte. Kommissar X wollte damit klarstellen, dass die Polizeiarbeit jedes andere Lebensziel ausschloss.
    Das zweite Prinzip – HALTE DICH IM ZWEIFELSFALL AN DIE REGELN – rief dazu auf, sich streng nach den Vorschriften zu richten, und wandte sich gegen jeglichen Einsatz von Phantasie.
    Und das dritte Prinzip war das klassische DURA LEX. Das Gesetz mag zwar hart sein, aber es gilt. Ausnahmslos.
    Kommissar X war ein Mann mit eingefahrenen Denkmustern, einer von denen, die zunächst blind versuchen, den Sturm im Wasserglas einzufangen, anstatt sich erst einmal seiner Analyse zu widmen. Sein Aufstieg bei der Polizeibehörde hatte niemanden erstaunt. Erstaunlich hingegen war, vor allem für X selbst, dass die Prinzipien, die ihn ganz nach oben gebracht hatten, genauso zuverlässig zu seinem Absturz führten.
    Weil sie noch jung waren, aber auch weil das Leben naturgemäß gegen Zwänge aufbegehrt, konnte X in den Ermittlern der Abteilung Sechs nicht die Ebenbilder sehen, die er sich erträumt hatte.
    Da war Nora Duarte, eine Brünette mit geschmeidigem Körper und dem strengen Gesicht einer Fruchtbarkeitsgöttin. Ihre wissenschaftliche Ausbildung verbot es ihr, sich selbst den abwegigsten Hypothesen zu verschließen. Sie gehörte zu denen, die den Sturm analysieren und das Glas ausschließlich zum Trinken verwenden.
    Dann gab es Dumont, den Frischling. Der Einzige, der die strengen Regeln, die X ihnen aufzwang, rechtfertigte (das wird schon alles seinen Grund haben, erklärte er). Auch beherzigte er dessen Rat, »Feldstudien« außerhalb der Dienstzeit zu betreiben, was bedeutete, dass er vor dem Zubettgehen noch ein paar Bierchen im Cienfuegos trank.
    Und dann war da Nadal, einer der Veteranen. Die Zeit, die er gebraucht hatte, um die Karriereleiter emporzuklettern, hatte ihn gelehrt, dass die von Kommissar X so bewunderte Lex alles andere als ein
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