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Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Titel: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
Autoren: Friedrich Christian Delius
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mit Aussatz bedecken und dem Fisch ein nahtloses Schuppenkleid verpassen, darum rieb ich abends eine stinkende Tinktur auf Knie und Ellbogen und hatte beim Nachtgebet in der Nase den süßlich ranzigen Gestank, aber die Medizin, die mich vor der Fischhaut bewahren sollte, half so wenig wie die Bitte
mach mich fromm!
    Ich konnte nur auf lange, endlose Sommer hoffen und hielt die befallenen Körperteile in die Sonne, damit die Schuppen verschwänden, sie verschwanden auch ein wenig und wuchsen dann wieder nach, kein Arzt konnte ausschließen, dass sie nicht doch eines Tages den ganzen Körper bedeckten und anfraßen, so ging es Jahre, und ich war ein Fisch und blieb ein Fisch, stumm, schuppig, in ständiger Atemnot. Ich wollte kein Fisch sein und fürchtete darum das Wasser, wurde wasserscheu und ertrug trotzig diesen Vorwurf, wollte nicht schwimmen lernen, wollte den Fischen nicht noch ähnlicher werden, traute dem Wasser nicht zu, mich zu tragen, einen, der nicht richtig Kind, nicht richtig Fisch war und der nicht richtig atmen konnte und an der Angstleine zappelte. Ich sah die Augen der Heringe auf dem Teller, meine Augen, sie sahen nichts mehr, sie glotzten nur leer in die Welt, und auch ich wollte nichts mehr sehen, wollte nur fort und die Angel loswerden und die Stummheit und die Schuppen, aber ich konnte nichts weiter tun als mich dem Zug der Angelschnur anpassen und den Schmerz vermindern oder auf andere Partien des Körpers verschieben, immer darauf gefasst, plötzlich in die Luft gezogen zu werden und das Atmen ganz aufgeben zu müssen, ich wollte nicht stumm sein und fand mich ab mit der Stummheit, ich wollte die Schuppen ablegen und hörte nicht auf zu fragen, warum sich die Haut von mir trennte und wer sie mir wiedergeben könnte eines viel zu fernen Tages. Ich suchte festen Boden unter den Füßen, wollte weg vom Wasser, ich wollte nie mehr gezogen werden und hasste alle Jäger mit Flinten und Angeln und wusste das alles nicht zu sagen.

Wo bin ich? Ich bin da, wo die Mitte ist. Im Weltall die Erde, im Mittelpunkt der Erde Europa, in der Mitte Europas Deutschland, in dessen Mitte Hessen, und, so weit vom Sog Frankfurts wie von den Ausläufern Kassels, mitten im Hessenland, nur etwas nach Osten verschoben, der Kreis Hünfeld, und wenn mein Dorf auch nicht in der Mitte des Kreises lag, es war doch gleich weit entfernt von Hünfeld wie von Bad Hersfeld, in der Mitte zwischen beiden Städten Wehrda. Hier war es leicht, sich ein Bild von der Welt zu machen und einen Mittelpunkt zurechtzulegen und diesen Punkt vom Fenster aus zu sehen wie ein Nest: in der Mitte des Ortes, in der Mitte aller Mitten, Haus, Hof, Kirche, Kirchplatz. Das Haus zum Wohnen, der Hof zum Spielen, die Kirche ein Arbeitsplatz, der Kirchplatz der Drehpunkt der Welt, ein runder, halb mit einer niedrigen Sandsteinmauer eingefasster, mit acht Linden bestandener alter Dorfanger, wie eine Insel leicht erhöht über den vier Straßen, die hier zusammenliefen, ohne den Platz zu zerschneiden oder zu verkleinern.
    Der Mitte sicher, zog ich die Kreise Schritt um Schritt, immer weiter um das Haus herum, in dem ich wohnte. Draußen war das Atmen leichter, draußen fing etwas Neues an, ein Spielplatz die Welt. Eine offene Haustür, die Sprünge drei Stufen hinab, fünf, sechs lange Schritte durch den schmalen Blumengarten,
mach das Tor zu, die Hühner!,
über den Hof und, an Fliederbüschen und der Hoflinde vorbei, die dicke Mauer kein Hindernis, das Einfahrtstor offen, schnell unter den Linden des Kirchplatzes, bei den Bänken, kaum mehr im Gesichtsfeld der Eltern, gerade noch erreichbar von ihren Stimmen, aber schon näher den Freunden und näher dem anderen Leben, am Treffpunkt in der Mitte der Mitte.
    Vier Straßen, zehn Nachbarhäuser, was macht der, was macht die, wo gehört der hin, was ist das? Immer tätig zwischen Scheunen, Ställen, Haus und Garten mit Eimern, Gabeln, Schippen, Kannen, Besen, Kuchenblechen, Wasserschläuchen oder den Maschinen fürs Feld, geschäftig mit Kühen, Schweinen, Pferden, Hühnern, im Kreislauf des Fütterns und Schlachtens, des Ackerns und Erntens, leicht gebückt und von ihrer harten Arbeit gebeutelt, sahen die Bauern doch auf, wenn ich, allein oder mit Freunden, mich von der Straße zu ihrem Hof wandte. Man musste nur
Guten Tag!
sagen, dann grüßten sie zurück und teilten eine sparsame, umstandslose Freundlichkeit aus. Manchmal drang ich bis in die dunklen Küchen vor, beobachtete beim Essen grobe gebückte
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