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Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Titel: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
Autoren: Friedrich Christian Delius
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beachtete die Sonntagsregel, auf das Sanellabrot zum Ei keine Marmelade zu schmieren, ich biss und kaute bedächtig wie die andern, ich fiel nur so weit auf, wie ich wollte, ich konnte mich aufspielen mit meinen elf Jahren als Ältester oder in die Rolle des Stummen kriechen ohne aufzufallen,
beim Kauen spricht man nicht.
    Das Brot, die Blicke fielen auf das immer gleiche und gleichartig dünn bestrichene Graubrot, das in fast stummer Andacht den fünf Mündern entgegenwuchs, gestrichen, gehoben, gebissen, gekaut wurde, wie es die Mutter in einer fast störrischen Langsamkeit vormachte. Nachdem sie das Brot der Jüngsten in Stücke geschnitten hatte, strich sie ihre Scheibe, schob vorsichtig das Messer in die Margarine und verteilte sie gleichmäßig dünn mit einer rätselhaften Hingabe bis an alle Ränder und Ausbuchtungen, über die winzigen Unebenheiten und kleinen Löcher hinweg. Zwischendurch sah sie auf, bat die ältere Schwester, auf die vom Brot tropfende Marmelade zu achten, und während sie ihre Margarinenscheibe hauchdünn mit Gelee rötete, fiel etwas Aufmerksamkeit ab für meinen Bruder, eine beiläufige Ermahnung, statt drei Löffeln Kaba nur einen zu nehmen, und auch an mich, der Vorbild zu sein hatte, war ein für alle gemeinter Hinweis aus dem Repertoire
nicht zu dick, nicht zu viel, nicht zu schnell
gerichtet, und als sie endlich zubiss, tat sie es mit einer solchen Behutsamkeit, als fürchte sie, einem Lebewesen die Knochen zu brechen.
    Beinah im Gleichtakt kauten wir die gleichförmigen, ähnlich dünn bestrichenen Scheiben bedächtig, zappelten wenig, stritten kaum, verzichteten auf Knuffen, Stoßen, Fußtritte, Sticheln, Zöpfeziehen. Obwohl alles ein paar Grade zwangloser war als sonst, verlangten die Sonntagsregeln und Sonntagskleider mehr Stillsitzen und Bravsein, weil die weißen Hemden, als seien spezielle Magneten in sie gewebt, Marmelade und Kakao anzogen, und niemand wollte schon am Morgen für den ganzen Tag mit einem Flecken markiert sein. Selbst wenn wir sprachen, trumpften wir nicht auf. Es wurde wenig geredet, als gehe nicht nur von der Marmelade, sondern vom Sprechen eine Gefahr aus, als verlange das Essen eine innere Andacht. Es hätte wärmer, lockerer, lustiger sein können, aber da das Lockere eher das Element des Vaters war, blieben wir in Erstarrung gefangen, in Sonntagsvorsicht und Geleetrübsinn. Wir aßen die Brote ohne zu schmatzen, tranken das Kakaogetränk ohne zu schlürfen und taten so, als zersetze das Brot, von dem wir uns nährten, gleich wieder die Energien, die es gab, als enthalte es irgendein Mineral, das die Zungen lähmte.
    Das Brot war heilig, auf jedem Laib, obwohl im Dorfbackhaus gebacken, lag der Segen des Heilands, auf jeder Scheibe, als sei sie nicht durch die Brotmaschine gekurbelt, sondern von Jesus persönlich gebrochen worden, der Widerschein eines Wunders. Das
tägliche Brot,
um das wir täglich beteten, es kam tatsächlich täglich auf den Tisch. Die Speisung der Fünftausend und das Abendmahlsbrot waren so gegenwärtig, dass selbst ein trockener Kanten ein entferntes Abbild eines zweitausend Jahre alten Brots aus der Bibel war,
Manna,
das himmlische Brot beim Zug durch die Wüste. Besonders vorsichtig wurde es angefasst, als könne eine grobe Bewegung oder zu viel Druck das Brot zerquetschen, vernichten, als verschwinde es bei geringster Gewalt und strafe den, der es achtlos, undankbar zu drücken oder mit ihm zu spielen wagte, mit der Verdammung zu ewigem Hunger. Indem wir es kauten, kauten wir die Ehrfurcht vor dem Brot mit, und obwohl noch nicht reif für das Abendmahl, waren die Belehrungen schon so weit fortgeschritten, so tief ins Bewusstsein gestempelt, dass ich beim ruhigen Sonntagsfrühstück schon den Anflug des Heiligen Geistes spürte. Jedes Tischgebet beschwor die Einheit zwischen Brot und Jesus und Gott und jenem magischen Geist, einer der drei oder alle zusammen
schenkten
das Essen, und daran sollte gedacht werden beim Anblick des Weizens auf dem Feld, der Ähren, der Dreschflegel und der Dreschmaschine, der Kornsäcke, des Mehls, der vollen Backbretter der Bauersfrauen, und so dachten wir, selbst wenn wir nicht daran denken wollten, im Beißen und Kauen an die Gnade des Herrn, der uns das Brot geschenkt hatte und nicht hungern ließ, der uns sogar wohnen ließ zwischen Feldern voll Weizen, Roggen, Gerste, Hafer.
    Wir verloren kein Wort über all das, weil es nicht mehr gesagt zu werden brauchte und weil wir gefüttert waren mit
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