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Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Titel: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
Autoren: Friedrich Christian Delius
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mich nicht bloßstellen musste und an dem mein ängstliches, verkrampftes Schweigen weniger auffiel als sonst, weil alles leiser, ruhiger und ohne Temperament abzulaufen hatte.
    Schritte auf den Dielen im Flur, Mutterschritte treppab, Großvaterschritte auf dem Weg zur Küche, wo die Waschkanne gefüllt wurde, und zurück ins Großelternzimmer. In den Wänden die Wasserleitungen, unten auf dem Hof die Hühner, in den Bäumen Vogelgezwitscher, das waren die auffälligsten Geräusche. Die Schweine waren um diese Zeit gefüttert, also blieb es ruhig in den Ställen der Nachbarn, ein Pferd wieherte, entferntes Hundegebell, die Kühe draußen auf den Weiden, die Traktoren standen in Garagen und Scheunen – allein an dem, was nicht zu hören war, hätte ich den Sonntag erkannt. Es war hell, Sommer, durch die dünnen blauen Vorhänge die steigende Sonne zu ahnen, aber ich tauchte noch einmal weg, suchte einen Traum zusammen, wollte alles wegträumen, was die Träume verdarb, und doch schoben sich die Verhaltensregeln des Sonntags immer stärker ins Bewusstsein, als lenkten der Nachhall der Glocken oder eine andere unsichtbare Macht mich beharrlich auf die Hauptsache des Tages:
Du sollst den Feiertag heiligen!
    Nicht nur die beiden Gottesdienste für Kinder und für Erwachsene, nicht nur das Zeremoniell von Singen, Beten, Zuhören, sondern jede Regung, jeder Schritt standen unter diesem Gebot. Räuber und Gendarm und ähnliche Gruppenspiele in Scheunen, auf Straßen und Feldern waren verboten, Spiele in den Zimmern erlaubt, Toben und Streiten verboten, das Hämmern und Sägen an der selbstgebauten Holzhütte neben dem Hühnerstall verboten, das Sitzen in der Hütte erlaubt. Hausaufgaben zählten als Arbeit, selbst ein schneller Blick am Sonntagabend ins Lateinbuch, und Arbeit war verboten, weil Gott sich am siebten Tag erholt hatte, aber das Lesen anderer Bücher war erlaubt. Lederhosen verboten, Manchesterhosen erlaubt, Fahrradfahren vormittags zur Gottesdienstzeit verboten, nachmittags erlaubt, Fußballspielen auf dem Hof oder Kirchplatz vormittags wegen der Sonntagsruhe, nachmittags wegen der Sonntagskleider verboten, aber der Gang zum Sportplatz erlaubt, wo die Erste Mannschaft des F.C. Wehrda jeden zweiten Sonntagnachmittag ihre Spiele austrug. Ich hatte alle diese Regeln im Kopf, die mir beschämend einsichtig schienen, weil ich mit ihnen verwachsen, in sie hineingewachsen war. Ich mochte sie nicht, aber ich akzeptierte sie, und je länger ich im Bett lag, desto später würden sie in Kraft treten.
    Ich hätte lesen können oder den TRIX -Baukasten aus dem Schrank holen oder den Bruder zu einem Spiel anstiften oder ärgern, hätte mich anziehen und aus dem Haus laufen können, aber ich blieb liegen, weil ich die Lust spürte, all das nicht zu tun, zu nichts verpflichtet zu sein und von niemandem beobachtet zu werden. Mehr und mehr wurde diese Lust jedoch von der Ahnung durchkreuzt, dass meine Freiheit, die Gültigkeit der Sonntagsregeln ein wenig hinauszuzögern, von Minute zu Minute abnahm und mir nicht viel länger als die eine Stunde zwischen Wecken und Aufstehen gegönnt war, denn bald musste alles wie gewohnt auf die gefalteten Hände und das
Du sollst
hinauslaufen.
    Der Sonntag war nicht für mich da oder für die Familie, sondern für jenen bärtigen Vater über dem Vater, dem wir alles zu danken hatten. Ein Leben ohne Glocken, ohne den
Feiertag,
ohne christlichen Stundenplan voller Gebete und Gesänge konnte ich mir nicht vorstellen. Noch weniger, jemals dem alles überragenden, allgegenwärtigen Auge Gottes zu entkommen, das irgendwo im Himmel hing und alles sah und nicht gesehen wurde. Ich konnte versuchen, mich dem Blick zu entziehen, aber damit entlastete ich das Gewissen nicht, denn das Auge Gottes spiegelte sich in den Augen des Vaters, der Mutter, der Großeltern, ihre Augen flankierten und vervielfachten das Gottesauge, zu viele Augen sahen auf mich herab.
    In solchen halbwachen, unkontrollierten Momenten befiel mich, auch wenn ich nichts Verbotenes tat oder dachte, eine unerklärliche Scham, eine zapplige Schwermut und Lähmung. Ich fürchtete mich und wusste nicht, wovor und vor wem, wusste kein Rezept gegen die Furcht, wehrte mich mit verlängerten Träumen und ahnte, wie begrenzt meine Kraft zum Phantasieren und zum Vervielfältigen der Träume war. Mein Kopf war belagert und mein Körperbündel besetzt von der unbegreiflichen Macht Gott, die in alle Gedanken hineinregierte, mein verschupptes,
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