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Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Titel: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
Autoren: Friedrich Christian Delius
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Glücks, in dem ich Stottern, Schuppen und Nasenbluten vergaß und das Gewissen und alle Gotteszangen von mir abließen. So leicht fühlte ich mich nie, und unter dem pulsierenden Siegesgefühl lag eine tiefe, verzweifelte Ahnung, was es heißen könnte, befreit zu sein von dem Fluch der Teilung der Welt in Gut und Böse, befreit von der Besatzungsmacht, dem unersättlichen Gott, und vielleicht auch die Ahnung von der begrenzten Dauer dieses Glücks, einmal ungebremst
Ja!
sagen zu können. Irgendwann beim Abendbrot würde der Sieg nur noch halb so viel wert sein, spätestens mit dem gnadenlosen Nachtlied
Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt
würde die Vertreibung unter den Willen
des Herrn,
in das geduckte Anpassen und Ausweichen und in das Exil meines hilflosen
Nein!
wieder beginnen. Deshalb wünschte ich, diesen Moment zwischen den Lindenbäumen so lange wie möglich auszukosten, ich hätte am liebsten geschrien, gelacht, getanzt, getobt, die Glocken geläutet, mit der Sirene auf dem Gasthaus Lotz das Dorf geweckt und den Tag mit einer Feier gekrönt, wie Weihnachten, Geburtstag, Ferienbeginn, Sängerfest, Feuerwehrfest, Meisterschaftsfeier und Kirmes zusammen.
    Aber das Dorf verharrte träge in seiner Stallwärme, in der Sonntagnachmittagsstille und in den Gerüchen, die von Blumen und Misthaufen, vom Heu in den Scheunen, vom Korn der Felder, von der Milch aus den Ställen, von der Späne aus der Schreinerei und von den Linden heranwehten. Wenn ich mich drehte, konnte ich ungefähr zehn Türen sehen, vielleicht fünfzig Fenster, doch kein Gesicht erschien. Alles, was ich sah, war die Behäbigkeit des Fachwerks, das regenverwaschene Grau der Bretter von Heinzens Scheunenwand, die eisernen Zaunspitzen vor den Sonnenblumen und Wicken in Hahns Garten, der stumme Hydrant neben kurzen Brennnesseln, die leere Milchbank neben der Reklamewand. Von der Steintreppe der Gastwirtschaft Lotz leuchtete rot und rund das Emailleschild
Trink Coca-Cola eiskalt
herüber, unter dem ich morgen um kurz vor sieben wieder auf den Bus nach Bad Hersfeld warten musste.
    Wenn wichtige Nachrichten zu verkünden waren, stand vor dem Hydranten der Gemeindediener mit schiefer Mütze, das Rad an den Zaun gelehnt, schellte mit der Handglocke und rief mit lauter Stimme vom Zettel ab, was alle wissen sollten, aber nun, bei dieser Sensation, ließ sich kein Mensch blicken. Die Kreuzung neben dem Kirchplatz überquerten am Werktag Kühe, Pferde und Traktoren, sie zogen Mistfuhren, Jauchewagen, Ackermaschinen, hochbeladene Leiterwagen voll Heu oder Getreidegarben, dazwischen der Lkw von Walter Scholz, der Bus von Franz Richter und wenige Lieferwagen, wenige Autos, und jetzt nicht einmal ein Kuhgespann zu sehen. Vielleicht hätten der schläfrig tappende, der schaukelnde Gang zweier Kühe im Takt der kauenden Mäuler und ein Bauer, der sie am Zügel und mit der Peitsche führte, schon gereicht, mich als Weltmeister nicht völlig allein in der Welt zu sehen.
    Alles war so, als hätte sich nichts verändert mit der Weltmeisterschaft, als hätte ausgerechnet jetzt jemand das Dorf verwunschen und stillgestellt oder als hätten sich, im Augenblick meines Triumphs, die Menschen im Dorf für immer von mir getrennt. Die Enttäuschung schmerzte wie Brennnesseln schmerzten, aber der Brennnesselschmerz war auszuhalten, wenn man die Luft anhielt. Ich wusste nicht mehr, in welcher Wirklichkeit, in welchem Traum ich mich befand, Spatzen zwitscherten in den Ästen, Hühner gackerten, viele Brennnesseln wuchsen an der Hofmauer. Ich war einer Stille ausgeliefert, die nach dem Jubellärm von Bern mich verletzte und den Sieg beinah zurückverwandelte in einen schäbigen Betrug. Die Welt stand still, obwohl sie sich schneller hätte drehen müssen um den kreisrunden Platz mit den acht Bäumen, mit den Ketten zwischen den Begrenzungssteinen wie ein Karussell drehen und drehen, um mich als Achse.
    Ich griff in die Lindenäste, zog einen herunter, hielt mich fest an dem schwankenden Ast, an den schwitzenden Blättern, atmete den schon abgeschwächten Blütenduft ein, klammerte mich an die Hoffnung auf die Fußballgötter und wünschte, dass mir, wie immer die Wehrdaer und Hersfelder Freunde sich verhalten mochten, der Sieg nicht zu nehmen sei: Bern war in mir, ich war Liebrich, ich war Weltmeister, der Beweis war die Reporterstimme, der Beweis war eine neue, über das Radio gespendete Energie, da war der Schimmer eines Auswegs, der weiter reichte als die
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