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Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Titel: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
Autoren: Friedrich Christian Delius
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unterstrichen, aus dem Berner Stadion an mein Ohr, und ich riss, obwohl ich noch nichts begriff, eher hilflos als triumphierend die Arme hoch und rief leiser, als ich wollte: «Tor!», leise, weil ich meine Freude noch nicht spürte, sondern nur den Reflex auf die Schreie aus dem vibrierenden Kasten, ehe der Reporter wieder zur Sprache fand: …
drei zu zwei führt Deutschland, fünf Minuten vor Spielende! Halten Sie mich für verrückt, halten Sie mich für übergeschnappt!
    Ich hielt ihn nicht für verrückt, nicht für übergeschnappt, ich war auf das Tor nicht gefasst, auf den Sieg nicht, ich rief noch einmal «Tor!», nun etwas lauter, als müsste ich mit meiner Stimme den Beweis liefern, dass wirklich ein Tor für uns gefallen war. Niemand antwortete, weder die Mutter noch Geschwister oder Großeltern liefen herbei, und doch durfte ich jetzt nicht zweifeln …
und jetzt Daumen halten, viereinhalb Minuten Daumen halten.
Die Kreuze an der Wand schrumpften, die Gottesgespenster hielten still wie geschlagen, die Engel, immer lauernd auf Gelegenheiten zu Lob und Jubel, drückten keine Daumen, standen ungerührt im Gold ihrer Bilder, verharrten gebannt in ihren himmlischen Gesten, provozierend still mit ihren Posaunen …
drei zu zwei, und die Ungarn wie von der Tarantel gestochen.
Ich drückte die Daumen und konnte nicht fassen, warum ich sie so drückte, die Ungarn waren dabei zu verlieren, sie drehten
den siebten oder zwölften Gang auf … kein Tor! Kein Tor! Kein Tor! Puschkasch abseits!
 … die Macht wankte, sie war fast geschlagen, das Unterste war zuoberst, plötzlich ergab der Bibelsatz einen Sinn
Die Letzten werden die Ersten sein,
und es lag auch an meinem Daumen, an meinem Willen, ob dieser Traum anhielt, ob er wahr werden sollte …
noch vier Minuten … Hidegkuti … Turek am Boden
 … es konnte nicht wahr sein, was ich hörte, die
ungekrönten Weltmeister
am Ende, beinah geschlagen mit einem Tor, es konnte nicht wahr sein, gegen die Favoriten Sieger zu bleiben, die seit viereinhalb Jahren nicht verloren hatten.
    Noch drei Minuten … und Daumen drücken, Daumen drücken … und Deutschland stürmt! … Der Sekundenzeiger, er wandert so langsam …
die Stimme wankte, ich starrte auf das grüne Auge, alle Engel und Moses hatten ausgespielt oder waren gefallen, die heiligen und schwarzen Schriften versunken, ohne Macht über mich, die Stimme schlug gegen den Stoff vor dem Lautsprecher, mein Herz schlug im Takt der Stimme …
jetzt spielen die Deutschen auf Zeit … die Ungarn sind völlig aus dem Häuschen, Deutschland ist wieder in Ballbesitz
 … Ich war in einen Sturm der Atemlosigkeit geworfen, musste ruhig bleiben, ganz ruhig, auch wenn der Sekundenzeiger langsam wanderte, er wanderte, wir werden, wir können, wir sind, ich oder Liebrich, wir sind, ich und Liebrich, wir, ich, Liebrich,
die ganze deutsche Mannschaft setzt sich ein mit letzter Kraft, letzter Konzentration
 … ich sah nichts mehr, Spielfeld oder Spieler verschwommen im Taumel, im Regen, ich sah nur den unsichtbaren Sekundenzeiger …
Tschibor, jetzt ein Schuss – gehalten, von Toni gehalten! Und Puschkasch der Major, der großartige Fußballspieler aus Budapest, er hämmert die Fäuste auf den Boden, als wollte er sagen, ist denn das möglich, dieser Siebenmeterschuss! Es ist wahr, unser Toni hat ihn gemeistert! Und die fünfundvierzigste Minute ist vollendet, es kann nur noch ein Nachspiel von einer Minute sein
 … ich hielt den Atem an, ich wusste nicht, was
Nachspiel
bedeutete …
es droht Gefahr! … Aus! Aus! Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister, schlägt Ungarn mit drei zu zwei im Finale in Bern!
    Die Stimme kippte von
Aus!
zu
Aus!,
taumelte von Silbe zu Silbe mit letzter Kraft, brach zusammen, fiel nieder und war doch wieder da und verkündete die unglaubliche Nachricht, das Wunder, das ich nicht begriff und mir auch durch eine Wiederholung mit der eigenen Stimme, «Gewonnen, drei zu zwei gewonnen!», nicht begreiflich machen konnte, denn es gab kein Echo, keine Fragen aus dem Esszimmer nebenan, wo sie mit Kaffee und Kuchen fertig waren und sich zerstreut hatten. Ich brauchte weiter die Verbindung zur Stimme in Bern, die, etwas weniger erregt, aber unsicher, fast stotternd das Unglaubliche wiederholte …
deutsche Mannschaft, Weltmeister
1954
 …
und nach passenden Worten suchte auch für mich, der in diesem Augenblick, in den Rausch einer neuen Sprachlosigkeit gestoßen, nur
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