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Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Titel: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
Autoren: Friedrich Christian Delius
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müsse ich sofort wieder einsatzbereit sein auf dem Spielfeld.
    Ja, ob in Hamburg, ob in München, in Bonn, in Köln, ob in Frankfurt, Sie alle, alle, die Sie jetzt einen Lautsprecher haben werden, Sie werden hoffentlich dabei sein und den Daumen drücken für unsere tapferen Jungens …
ich gehorchte, stopfte den Rest des Kuchens in den Mund und drückte den Daumen, wusste nicht genau, wie man das am wirkungsvollsten tat, mit der linken Hand den rechten Daumen oder beide Daumen gegeneinander oder den Daumen in der noch krümeligen Handmulde von allen Fingern gedrückt oder Daumen und Zeigefinger beider Hände fest zusammen, ich probierte es mal so, mal so, brachte alle Kräfte auf gegen die Ungarn, die wieder das deutsche Tor belagerten und von allen Seiten beschossen …
Kopfball! An die Querlatte! Und kein Tor! Zwei zu zwei, nachdem Turek schon geschlagen schien!
 … ich drückte zu stark, ich musste nachlassen …
mein Kompliment für Sie, meine lieben Zuhörerinnen und Zuhörer, Ihr Daumendrücken hat in den letzten drei Minuten geholfen, denn sonst stände es drei zu zwei für Ungarn.
    Es wurde ruhiger in Bern, es wurde nicht ruhiger in mir, ich hörte Kaffeegeschirr, in Bern regnete es weiter, draußen zogen die Wolken grau vorbei, ich hatte die Lautstärke etwas aufgedreht und fuhr plötzlich hoch, weil ich meinen Vater neben dem Schreibtisch bemerkte. Ich erschrak weniger über ihn oder seine große Gestalt als über seine plötzliche Anwesenheit, seine aufdringliche Nähe …
Liebrich, Liebrich, wenn wir dich nicht hätten!
 … solche Sätze voller Begeisterung, denen ich mich ausgeliefert hatte, waren mir vor dem Vater peinlich, der nachsichtig lächelte und trotzdem in der Reporterstimme die Stimme eines fernen Konkurrenten wittern mochte …
und Liebrich, Liebrich, nimm ihn!
Ich wollte nicht, dass er solche Sätze hört, seine Anwesenheit lenkte mich ab, ich wollte nicht gestört werden, ich schämte mich. Ich sagte: «Immer noch unentschieden!», und drückte mich tiefer in den Stuhl, der sein Amtsstuhl war, und tat so, als berühre mich das Spiel nicht besonders, während ich andächtig die Stichworte aus dem Radio empfing. Wenn der Name Liebrich fiel, war ich Liebrich, wenn Kohlmeyer, dann Kohlmeyer, und ebenso war ich vollauf beschäftigt als Fritz Walter und Turek und Rahn, ich konnte nur ein wenig aufatmen, wenn der Reporter
Posipal!
rief, für die Verteidigung links war ich nicht zuständig, oder
Eckel!
und
May!,
als Außenläufer war ich zu langsam, auch als Linksaußen wie Schäfer oder Stürmer wie Ottmar Walter oder Morlock taugte ich nicht, ich war Liebrich und mehr als Liebrich, in fünffacher Gestalt auf dem nassen Rasen von Bern,
überall
wie Fritz,
in der Luft
wie Toni,
pfeilschnell
wie Rahn,
sicher
wie Kohlmeyer,
kämpferisch
wie Liebrich. Der Vater nahm ein Buch aus der Aktentasche und kündigte seine Abfahrt nach Rhina an, er blieb nur zwei oder drei Minuten, aber jede Sekunde seiner Anwesenheit und jedes Wort störten, ich wurde ungeduldig, die Ablenkung bedeutete Gefahr für meine Mannschaft und Gefahr für mich, ertappt zu werden, wie ich mich vor seinem Radio von seinen Kreuzen und Altären abwandte, anderen Stimmen anvertraute und andere Anbetungen übte. Ich atmete auf, als er das Zimmer verließ, atmete auf, weil in diesen Augenblicken kein Tor gefallen war auf der einen oder der anderen Seite, und Sätze wie …
Liebrich, Liebrich springt hoch wie ein Weltrekordhochspringer …
halfen, mich schnell wieder in den Helden des Tages zu verwandeln.
    Die zweite Halbzeit war zur Hälfte vorbei …
Deutschland hält sich großartig …
immer wieder fielen
die melodischen Namen der Pußta-Söhne,
die ich gar nicht melodisch fand, weil sie immer wieder Gefahr brachten, weil sie nur dazu da waren, mir die unvermeidliche Niederlage zuzufügen, im entscheidenden Moment zuzustoßen, auch wenn sie keine Messer hatten und nicht gerade Abraham hießen. Sie waren
ungeschlagen,
sie waren
die Angriffsmaschine,
die Gewinner, auch wenn alles tückisch ausgeglichen war bis jetzt und das Spiel im Rhythmus der Worte des Reporters hin- und herwogte:
Könnte schießen! Schießt! Schießt! Abgewehrt! Nachschuss! Abgewehrt! Der Ball wäre dringewesen!
    Ich hörte draußen das Motorrad, der Vater fuhr los, ich sah ihm nicht nach aus dem Fenster, ich sah die Spieler, wirbelnd in Bewegung, rennen, springen, hechten, köpfen, dribbeln. Ab und an rissen oder verwischten die bewegten Bilder, weil
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