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Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Titel: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
Autoren: Friedrich Christian Delius
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endlich so fühlen, wie ich mich wohlfühlte, trotz der wachsamen Nähe all der dicken schwarzen Bücher und der Pfarreraktentasche. Aber das Spiel war noch nicht vorbei, ich schaute auf das Rombild, auf die Treppenstufen, hinauf, hinab, auf das feine schwarzweiße Gefüge des Stichs, eine Frau im Vordergrund streckte den Arm weit aus, zum Triumphbogen hin, der mit seiner gestrichelten Steinlast und den Steinmustern zu meiner schwarzweißen Wahrnehmung des fernen Spiels passte. Das Spiel war noch lange nicht vorbei, über meine Gefühle das letzte Wort nicht gesprochen, ein Schuss, ein Abwehrfehler konnte wieder alles zunichtemachen …
Kopfball von Kotschitsch! Am Tor vorbei!
Einer verletzt, Eckel verletzt, wie wird es weitergehen …
Sepp Herberger, er scheint die Ruhe selbst zu sein, aber wie mag es in ihm aussehen …
muss Eckel aufhören, blutet er, blutet die Mannschaft …
wieder die Ungarn …
und noch einmal …
aber der Abpfiff erlöst uns …
der Abpfiff erlöste mich, die Zeit wurde angehalten, Pause zehn Minuten …
wir bitten Sie, die Leistung unserer Mannschaft in Ihren Herzen so anzuerkennen, wie sie es verdient.

Das Blut blieb nicht in den Adern, das Blut blieb nicht in der Wunde, es trocknete nicht, es floss ohne aufzuhören, wohin lief das Blut, wer fing es auf, wohin fiel der blutleere Körper, wer fing den Körper auf, ich wollte nicht wissen, was der Lehrer da vorne erzählte von einem Bluter, ein Junge, etwas älter als wir, der an seinem Blut sterben musste und nicht mehr zu retten war, und ich verstand nicht, warum diese Geschichte, die schon in der
Hersfelder Zeitung
gestanden hatte, im Deutschunterricht erzählt wurde, vielleicht hatte ich wieder nicht richtig aufgepasst, wieder den entscheidenden Punkt nicht begriffen, schon nach wenigen Sätzen des Lehrers war die Erzählung lebendig geworden, ich sah den Jungen bluten und immer bleicher werden, ich wehrte mich gegen die Geschichte, wehrte mich gegen die immer deutlicheren Bilder, konnte das Blut nicht stoppen, das Blut stand nicht still, ich sah den Bluter in einem weißen Bett liegen und um ihn herum ratlose Ärzte und Eltern das Blut auffangen mit Schüsseln, das Blut lief aus der Wunde, ich sah die Blutquelle auf dem Arm des Jungen, es gab kein Medikament, das Blut gerinnen zu lassen, man konnte die Wunde nur abdecken, zustopfen, hochlegen, aber das half wenig, das Blut quoll weiter durch Pflaster und Binden, und ich dachte, jetzt ist es genug, jetzt muss er endlich aufhören, der Lehrer, ich will es so genau nicht wissen, ich kann Blut nicht sehen, ich will es nicht sehen, und ganz wild auf die Blutgeschichte, so schien mir, lauschten die dreißig Jungen um mich herum dem Lehrer, der nun berichtete, dass diese Krankheit vererbt werde und oft unter Adligen vorkomme, und ich wollte nicht weiter hinhören, ich kannte das alles vom Nasenbluten, wenn die warme rote schwere Flüssigkeit aus der Nase troff und Lappen und Tücher und Nasendrücken und Nackenkühlen das Blut nicht bremsten und erst nach vielen Minuten allmählich gerinnen ließen und ich, die blutigen Taschentücher in der Hand vor der Nase, auf dem Sofa lag und entkräftet die Frage nicht abwehren konnte, ob ich auch ein Bluter oder wie nah den Blutern und warum es immer so elend lang dauerte, bis diese peinliche Tortur zu Ende war, es war genug, ich sah das Blut, ich roch es, ich fühlte seine vertrauliche, tückische Wärme, es war genug, endlich hörte der Lehrer auf mit der Geschichte, aber dann fragte einer nach, und wieder ging es los mit Gerinnung und Vererbung, ich konnte es nicht mehr hören, der Hinweis auf die Adligen beruhigte mich überhaupt nicht, ich war ja selber zur Hälfte von Adel, stammte von Leuten ab, die sich etwas einbildeten auf das Von und das blaue Blut, auf das Bluterblut, das direkt in den Tod führte bei der geringsten Gefahr und kleinsten Verletzung, ich hatte Angst vor dem Blut, kannte das Blut auf den Jesusbildern, das Blut auf der Stirn unter der Dornenkrone, das Blut fein ausgemalt auf den Wundmalen auf dem Bauch über dem Tuch, Jesus mit dem Leidensgesicht, mit Blutspuren auf dem schwer herabhängenden Körper im Todeskampf, der mir beweisen sollte: im Tod, im Blut ist das Leben, und der verwundbare, schuldige Körper ist ein Ort des Leidens und der Schmerzen, die nötig sind, um am Ende auch mich zu erlösen, das Blut, das Christus
vergossen
hatte, sollte auch für mich
vergossen
sein, sollte für mich sein, aber das Blut, das da
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