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Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Titel: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
Autoren: Friedrich Christian Delius
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geht ein Mühlenrad,
wenn ihre Lieder über den Kirchplatz bis an unser Haus, bis in mein Zimmer wehten,
Hast du geliebt am schönen Rhein
und
Dort unten in dem Tale,
lag ich schon im Bett und stellte mein Gefühl ganz auf die Gesänge ein, denn die Melodien und die Texte, die ich im Lauf des Abends immer weniger verstand, banden mich näher an das Dorf als die Melodien und Texte der Choräle. In den Wäldern und Tälern, von den Männern besungen, sah ich meine Wälder und Täler, sah den kühlen Grund und das Schneegebirge in der nahen Rhön, sah den schönen Rhein an der Haune liegen und sah mich wandern auf den Höhen über dem Dorf. Der Chor sang sich in die Landschaft hinein und nahm mich mit, ich summte mit, wollte ein Sänger sein, Sänger stottern nicht, die Harmonien der
Abendglocken
und
Mondnacht
galten auch mir, nahmen den Druck von mir, erleichterten das Sinken in die Wellen des Schlafs.
    Ich bin, wo die Mitte ist, aber wo endet die Mitte? Abends, bei ruhigem Wind, hörte ich hinter dem Wald, tief im Haunetal, die D-Züge und Güterzüge auf der Strecke zwischen Hamburg und München oder Frankfurt vorbeijagen, nur zwei bis drei Kilometer von meinem Zentrum entfernt. Daneben fuhren Tag und Nacht die schweren Lastwagen und die immer bunteren Autos, so viel Verkehr auf der Bundesstraße 27 , dass man in der
Hersfelder Zeitung
nach einer Autobahn rief. Der Nord-Süd-Verkehr durch die Kreise Hünfeld und Hersfeld wurde schlimm, im Nachbardorf Neukirchen, das sich aralblau und essorot zu färben begann, starben Kinder unter den Autos, meine Mitte blieb von allem verschont. In Wehrda gab es kein größeres Unglück, kein Hochwasser wie in Rhina oder Langenschwarz, kein Güterzug entgleiste und ließ Benzin in die Haune laufen, mit Sensationen konnte nicht gerechnet werden.
    Es gab nur die eine Bedrohung, gleich hinter den nächsten Bergen lauerte das Reich des Bösen, hinter den Stacheldrähten die düstere Ostzone Walter Ulbrichts. Aber die Amerikaner schützten meine Mitte, sie hatten die stärkeren Panzer mit weißem Stern, kurz vor Hersfeld fuhr der Bus an Kasernen vorbei, ich sah die Amis auf dem Posten, ich sah sie im Manöver, sie beherrschten das Gelände, sie beherrschten die Luft, sie funkten, sie schützten meine Wälder, sie kauten mit offenem Mund, sie lachten, als sei alles ein Spiel.
    Hohe, dichte Wälder, Schutzwälle aus Buchen, Fichten, Eichen hielten die Stürme ab und umgaben in einem Dreiviertelkreis den Ort, an dem ich nicht verloren war. In nördlicher Richtung, mit gehügelten Feldern und mattgrünen Wiesen bestückt, lag eine breite Öffnung, die sich auf die Dorfmitte hin trichterförmig verengte, und auch die vier mit Apfelbäumen bestandenen Straßen, die aus Rhina und Schletzenrod durch das unbewaldete Land, aus Langenschwarz und Rothenkirchen mit vielen Kurven durch den Wald herführten, fügten sich in die leicht absteigende, von drei Waldrändern markierte Trichterform ein, als sollte für den, der aus den Nachbardörfern oder von weiter her kam, die Landschaft genau hier münden, in diesem Tal, in dieser Mitte, als endeten alle Straßen hier oder könnten hier beginnen. Das Dorf in der Mulde, von Fichtengrün und Buchengrün weiträumig umschlossen, zwischen Häusern, Kirche und Schlössern gaben Kastanien, Linden, Birken, Pappelreihen vielfältiges Grün dazu, lag im Schoß der Landschaft oder war wie ein Schoß, in den ich mich wieder und wieder hineinziehen ließ. So sicher war ich meines Ortes in der weiten Welt, dass ich im Alter von zehn Jahren mit der Schreibmaschine des Vaters auf ein großes Blatt Papier einen
Weltplan
getippt hatte, in dem ich das Glück, in der Mitte zu sein und von der Mitte aus alles zu erfassen, nicht hoch genug stapeln konnte. Nach dem Vornamen und dem Nachnamen folgten acht Zeilen:
Beruf: Dichter. Ort: Wehrda. Kreis: Hünfeld. Land: Hessen. Staat: Deutschland. Kontinent: Europa. Planet: Erde. Welt: Weltall.

Die Glocken läuteten, ich stand im Hausflur unter dem Spruchbild
Wer ein- und ausgeht durch die Tür / Der soll bedenken für und für / Dass unser Heiland, Jesus Christ / Die rechte Tür zum Himmel ist.
Die Buchstaben waren in altem Stil und mit Goldpunkten verziert, ich beachtete die Mahnung
der soll bedenken
nicht, ich hatte sie zu oft gesehen, zu oft bedacht. Ich trug über dem Hemd eine graue Jacke gegen die Sommerkühle in der Kirche, war frisch gekämmt, die Haare halbnass, hielt ein Gesangbuch fest und wartete auf die Mutter,
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