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Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Titel: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
Autoren: Friedrich Christian Delius
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die Leute entweder dem Pfarrer entgegen in die Kirche oder vom Trauerhaus zum Friedhof hinter ihm her. Es machte mich stolz, dass diese Aufführungen ohne einen Hauptdarsteller niemals stattfinden konnten, den Vater. Aber mehr als der Mann im Talar, mehr als das Paar oder der Sarg interessierten mich die Leute, die den Hochzeitszug oder die Trauergemeinde bildeten und eine Doppelrolle spielten, feiernd oder trauernd beteiligt am großen Ereignis, verwandt oder gut bekannt mit dem Paar oder den Toten, und gleichzeitig Darsteller auf der Bühne der Straße, der Neugier der Zuschauer ausgesetzt. Die Männer hatten die verwaschenen Ackerkleider abgelegt und traten in schlechtsitzenden, vererbten schwarzen Anzügen und weiß strahlenden Hemden auf und parodierten den Pfarrer, die Frauen wurden, wenn sie nicht in dunkler Tracht mit Rosenlappen gingen, in Blümchenkleidern und weißen Spitzenkragen auf einmal der Mutter ähnlich. Nur die faltigen Gesichter konnten sie nicht verkleiden, und in dem angepassten Ernst, in der verwackelten Feierlichkeit als teilnehmende Darsteller blieb etwas Verschmitztes, als wüssten die Trauernden ebenso wie die Hochzeitsgäste, dass keine Verwandlung perfekt und endgültig ist, als brauchten sie den Rollenwechsel zwischen Arbeitsjacke und Schlips, das Auf und Ab zwischen Arbeit und Feiern, Schuften und Saufen.
    So zogen sie an mir vorbei, mit ihren vieldeutigen Gesichtern und einsilbigen Nachnamen, Hühn, Röll, Vock, Zinn, Mohr, Roos, Trausch, Quanz, Lerch, Heinz, Trapp, Hahn, Stock, Lotz, Manns, und dazwischen Beriet und Billing, Opfer, Adolph, Sippel, Stuckardt, Gerlach, Döring, Bolender, ehe sie im Takt einer schwankenden Geselligkeit auf der kleinen Bühne der guten Stuben verschwanden, wo die Teller immer voller und die Stimmen lauter wurden und die Aufführung in der Dunkelheit des Abends auf ein Ende zutrieb, zu dem die kindlichen Zuschauer nicht zugelassen waren.
    Wo bin ich, ich bin da, wo Fußball gespielt wird, auf dem Sportplatz, wenn in weißen Hemden und grünen Hosen elf Männer antraten unter dem Vereinsnamen F.C. Wehrda 1922 , der auf ein Brett am Tribünendach gemalt war, und mit dem Ball gegen andere Männer, die in schwarzen oder roten oder blauen Turnhosen über den Rasen rannten, den Ruhm des Dorfes verteidigten. Sie waren Kreismeister der A-Klasse gewesen, sie trugen den Namen Wehrda hinaus in die Dörfer der Vorderrhön und führten jeden zweiten Sonntag ihre Künste vor. Ich wollte so schnell und geschickt sein wie sie, ich stand an der Barriere, die um das Spielfeld gesetzt war, und feuerte sie an, ich holte den Ball, wenn er aufs Feld flog, ich lief hinter ihnen her, wenn sie nach dem Spiel, oft noch in Fußballschuhen, den einen Kilometer zur Gastwirtschaft Lotz schritten, ich hörte das Klacken der Stollen auf dem Asphalt, ich wünschte mir solche Schuhe. Ich war nicht dabei, wenn sie den Sieg oder die unverdiente Niederlage oder das ungerechte Unentschieden mit Auerhahn-Bräu feierten, ich hörte nur ihre Gesänge über den Kirchplatz schallen
Trink, trink, Brüderlein, trink
und
In einem Polenstädtchen, da wohnte einst ein Mädchen
und
Die Kirmes hat en Loch, en Loch, en Loch.
Weit entfernt war ich von diesen Männern zwischen zwanzig und dreißig, die von einem ehemaligen Nationalspieler trainiert wurden, der als Flüchtling im Dorf geblieben war. Ich hätte es nie gewagt, einen dieser Helden anzusprechen, die unter dem Namen Wehrda auftraten, Billing oder Gerlach oder Stock oder Manns, ich konnte mir nicht vorstellen, von ihnen eine Antwort zu erhalten auf meine Fragen, nicht einmal nach den Aussichten für das Endspiel der Weltmeisterschaft und wo sie die Übertragung hörten.
    Ich bin, wo die Mitte ist, wo gesungen wird. Männer formierten sich zum Chor, der Lehrer hob die Arme, schwang die Hände und wurde Dirigent genannt, die Männer im Halbkreis summten den Grundton und sangen bei hohen Geburtstagen vor den Haustüren
Im schönsten Wiesengrunde
oder
Wie herrlich sind die Abendstunden,
sangen am Ehrenmal
Ich hatt einen Kameraden,
bei Hochzeiten in der Kirche
Ich bete an die Macht der Liebe,
sie standen eng auf dem Friedhof zwischen den Gräbern und sangen
Es eilt dahin die Lebenszeit,
zu jeder festlichen Gelegenheit gab der Gesangverein mit ruppigen Bässen und kühnen Tenorstimmen den Ton an für die passende Stimmung. Wenn die Sänger am Samstagabend im Saal der Gastwirtschaft Lotz probten
Und in dem Schneegebirge
und
In einem kühlen Grunde, da
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