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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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ich Löcher ins Papier und ein starkes Licht ergoss sich von der Rückseite des Bogens über mich. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal das Gleiche wie in diesem Moment gefühlt hatte: Dankbarkeit.
    Als der Morgen graute, kamen die breiten, menschenleeren Straßen von Solvang zum Vorschein. Ich erkannte den Runden Turm, nicht so groß wie der in Kopenhagen, von hier aus erschien er nicht größer als ein Fingerhut, und nicht zuletzt bemerkte ich eine Statue des großen Märchendichters, die hinter dem Springbrunnen mit Der kleinen Meerjungfrau stand, gleich bei dem Bäcker, dessen Schaufenster von Kopenhagenern nur so überquoll. Es roch bis zu mir nach Zucker und Schokolade. Aber ich sah keinen Menschen, keinen Kunden, die Stadt schien verlassen zu sein, als würdest du in einem tiefen Traum langsam hindurchfahren und die Straßenlaternen sehen, die wie alte Bäume verwelken. Die Windmühlen spulten den Himmel zurück.
    Ich las durch, was ich geschrieben hatte, ließ es stehen, duschte, zog mich um und ging hinunter in den Frühstücksraum. Dort war auch niemand. Alle Tische waren leer. Ich setzte mich an einen und dachte: Ist die Einsamkeit, diese Isolation, ein notwendiger Preis, der Preis für die Dankbarkeit? Oder verhält es sich so, dass die anderen dafür dankbar sind, dass ich mich fernhalte, so fern wie möglich, sowohl in Zeit als auch in Raum? So kann ich am wenigsten Schaden anrichten. Ich war kurz davor, sentimental zu werden, und das wollte ich auf keinen Fall. Tisch für Tisch stand immer noch leer da, unter den Kronleuchtern, in den Saal hinein, der in einem Spiegel endete, in dem sich diese Abwesenheit von Wand zu Wand immer weiter fortsetzte. Dann kam doch jemand und setzte sich ans andere Ende. Ein junger Mann, noch ein Knabe, er trug eine Uniform. Nach einer Weile erkannte ich ihn wieder. Alles in mir war langsam und umständlich. Ich war in Zeitlupe. Das war der Soldat, mit dem ich auf dem Flughafen von Baltimore gesprochen hatte, Jimmy Stout. Er war es, der die Erinnerungen in mir wieder weckte. Ich stand auf und ging zu ihm. »Erkennen Sie mich wieder?«, fragte ich. Das tat er offensichtlich nicht. Ich musste es erklären. »Wir sind uns in Baltimore begegnet. Erinnern Sie sich nicht? Auf dem Flughafen dort.« »Doch, ja. Und?« Ich zuckte mit den Schultern. Der Junge wirkte noch trauriger. »Und jetzt sind Sie nach Hause gekommen«, sagte ich. Er schüttelte den Kopf. »Ich bin fortgegangen. Ich habe beschlossen, nicht nach Hause zu kommen. Okay?« Jimmy Stout sagte weiter nichts. Er machte mich unruhig. Sein Gesicht war nicht länger staubig, stattdessen schimmerte es mit einem Glanz, der mich an chinesisches Porzellan erinnerte. Sein Blick war auch nicht länger getrübt, er war scharf und ohne Zweifel. »Entschuldigung«, sagte ich. »Wofür entschuldigen Sie sich?« »Dass ich Sie gestört habe. Sie haben sicher mehr als genug zu bedenken.« Ich ging zurück an meinen Tisch. Immer noch keine Bedienung. Da kam ein neuer Gast, ein ordentlich gekämmter Mann mittleren Alters in tadelloser Kleidung. Er sah mich nicht. Doch er blieb abrupt stehen, als er den Soldaten entdeckte, der sich seinerseits genauso abrupt erhob und ihm den Rücken zukehrte. Der Mann ging mit schnellem Schritt auf den Soldaten zu, legte ihm die Hände auf die Schultern, drehte ihn um und gab ihm eine Ohrfeige. »Warum?«, fragte er. Nein, rief er. »Warum!« Jimmy riss sich los und ich hörte, was er sagte: »Du darfst gar nicht hier sein! Du sollst nicht hier sein, Vater!« Es waren also Vater und Sohn, so wie es überall Vater und Sohn sind. Sie blieben schweigend stehen und schauten aneinander vorbei. Ich weiß nicht, wie lange das dauerte. Es war nicht auszuhalten. Dann begann der Sohn zu schluchzen. Der Vater gab ihm eine weitere Ohrfeige. »Denkst du gar nicht an deine Mutter? Denkst du nicht daran, was du ihr angetan hast?« Ich ertrage solche Szenen nicht. Sie machen mich äußerst verlegen, solche Ausbrüche, wenn ein Mensch über alle Fakten und Gefühle hinwegrennt. Das widerstrebt mir. Können die Leute nicht ihre Dinge für sich behalten? Ich ging in mein Zimmer hinauf und setzte mich wieder an die Schreibmaschine. Das Einzige, was ich konnte: schreiben. Ich schrieb den Roman fertig, den ich verloren hatte, nicht denselben, das ist unmöglich, sondern einen anderen. Was man ersetzt, wird nie das Gleiche wie das, was verloren gegangen ist. Mir fiel das Philipsgebäude ein, das
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