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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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so weit kam ich nie, und heute noch beuge ich mich über sie in einem Schlaf, der dem Tag und dem letzten Licht angehört. Ich hätte meinen Vater zur Sprache bringen können, er stand mir nahe, aber er war tot. Ich antwortete: meine Mutter. Dr. Feel holte ein Blatt Papier und einen Stift heraus und bat mich Folgendes aufzuschreiben: Meine Mutter wird von einer Krankheit ereilt werden und binnen kurzer Zeit sterben. Natürlich weigerte ich mich. Es war unerhört. »Wovor haben Sie Angst?« »Ich habe keine Angst.« »Haben Sie Angst, dass es passieren wird, wenn Sie es aufschreiben?« »Es gehört sich nicht«, sagte ich. »Es gehört sich ganz einfach nicht.« »Wir versuchen, Ihre Gedankenbahnen aufzubrechen, Chris. Deshalb sind Sie hier.« »Welche Gedankenbahnen? Ich habe nicht so viele.« »Dass Sie glauben, alles hätte einen Sinn.« Ich musste lachen. »Dass Sie das sagen, hätte ich als Letztes erwartet.« »Dass Sie glauben , alles hätte einen Sinn. Sie sind gefangen von Zeichen, Chris. Sie sind ein unfreier Mensch.« »Und jetzt wollen Sie den Bann brechen und mich befreien?« »Ja, so kann man es auch sagen.« »Verschonen Sie mich, verdammt noch mal.« »Ist es so schwer, diesen einen Satz zu schreiben?« »Es gehört sich nicht«, wiederholte ich. »Es gehört sich ganz einfach nicht.« »Nichts wird passieren, auch wenn Sie ihn schreiben.« »Darum geht es gar nicht.« »Worum geht es dann?« »Es ist abscheulich.« »Das sind nur Buchstaben.« »Nur Buchstaben? Das hat einen Sinn, Dr. Feel. Das ist eine Handlung. Nicht nur Buchstaben. Sie machen mich wütend.« »Sie haben Ihre Mutter sehr gern?« »Wir stehen einander nahe.« »Beschreiben Sie sie.« »Verlässlich. Stark. Ängstlich.« »Sie erkennen sich selbst in ihr wieder?« »Ja. Abgesehen davon, dass ich weder verlässlich noch stark bin.« »Sie sind nur ängstlich?« »Ich bin noch keinen einzigen Morgen aufgewacht, ohne ängstlich zu sein.« »Wovor haben Sie Angst?« »Dass ich jemanden verletzt habe. Dass meine Hausaufgaben abgefragt werden. Dass ich plötzlich vor einem Spiegel stehe. Dass jemand mich entlarvt. Dass ich abgewiesen werde. Dass ich mich lächerlich mache.« »Wer ist jemand?« »Jemand, das sind alle.« »Sind die Ihnen wirklich wichtig?« »Ja.« »Sie sind bald sechzig, Chris. Haben Sie immer noch Angst, in den Hausaufgaben abgefragt zu werden?« »Ich habe meine Hausaufgaben nie gemacht. Ich habe so verdammt viel nachzuholen. Ich werde niemals damit fertig werden. Das Pensum ist einfach zu groß.« »Können Sie nicht ein neues Pensum aufstellen?« Ich wurde dieses Gerede so verdammt leid und wütend. »Packen Sie mich nicht wieder in Metaphern!«, rief ich. »Verflucht, keine Metaphern mehr!« Dr. Feel gab mir den Stift. »Sie sind wütend«, sagte er. »Sollen wir Bill holen?« Ich schüttelte den Kopf und wollte über etwas anderes reden. Ich hätte sagen können, dass das mein Nachruf war: Alles, was er anpackte, wurde zur Unterhaltung. Habe ich das schon gesagt? Aber habe ich nicht auch schon gesagt, dass ich ein Mann der Wiederholung bin? Das soll auf meinem Grabstein stehen, nicht, dass alles, was er anpackte, zur Unterhaltung wurde, sondern zu Refrains. Und wieder fällt mir auf, dass nur wenig oder nichts von dem, was ich schreibe, dem ähnelt, was ich erlebte. Es scheint, als würde meine Sprache zögern, sie hält sich zurück und geht Umwege, sie macht sich lustig über mich. Aber ich wollte über etwas anderes sprechen und zeigte auf das Bücherregal: » Moby Dick? Ist das ein Teil der Fachliteratur?« »In gewisser Weise schon. Haben Sie es gelesen?« »Ich bin nie damit fertig geworden.« »Das wundert mich gar nicht«, sagte Dr. Feel. »Wieso nicht?« »Weil Sie sich darin wiedererkennen, und das ertragen Sie nicht.« »Mich wiedererkennen? Im Wal?« Dr. Feel lachte. »In Käpten Ahab. Wissen Sie, welches Wort am häufigsten für ihn benutzt wird?« »Holzbein.« »Nein. Monomane.« »Ja und?« »Käpten Ahab schätzt Menschen nur, wenn er sie für sein Ziel benutzen kann, zu seinem Vorteil, zum Nutzen seiner Sache sozusagen. Und er muss alles erreichen, was er sich vorgenommen hat, ganz gleich was das an Tod, Leiden und Untergang mit sich bringt. Nicht einmal auf seine eigenen Kinder nimmt er Rücksicht. Er ist monoman.« »Ja und?«, wiederholte ich. »Ja und?« »Käpten Ahab ist das deutlichste Bild Ihres Zustands in der Literatur.« Ich wusste nicht, ob ich in guter oder schlechter Gesellschaft
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