Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
Vom Netzwerk:
dieses Gespräch?« »Es ist doch nett, sich mal unterhalten zu können, wenn ausnahmsweise jemand zu Besuch hierherkommt. Wie gesagt.« Ich rutschte wieder tiefer ins Bett hinein. »Ich werde den Doktor holen«, sagte der Sheriff und ging hinaus. Er ließ die Tür weit offen stehen. Ich sank in einen hellen Traum. Dann tauchte der Sheriff wieder auf, gefolgt von einem ebenso schwarz gekleideten Mann, der sich als Doktor Tyler vorstellte. Er wollte wissen, ob es mir irgendwo wehtat. »Im Kopf«, sagte ich. »Außerdem bin ich müde. Und ich habe Muskelkater. Er drückte mich mit seinen eiskalten Fingern hier und da und untersuchte meine Augen. »Sie haben vielleicht ein Glück.« »Glück?« »Ja. Sie haben vielleicht ein Glück, dass Sie überhaupt noch leben. Aber mit Ihrem Fuß sah es schon übel aus, Sir.« »Mit dem Fuß?« Doktor Tylor schob die Bettdecke zur Seite und hob mein rechtes Bein an. »Wir mussten ziemlich rabiat damit umgehen, aber wir haben es hingekriegt.« Jetzt sah ich es auch. Der Fuß zeigte nicht mehr zur Seite. Er war an Ort und Stelle. Doktor Tylor meinte, ich solle versuchen, ein wenig zu gehen. Er half mir auf. Ich ging zum Fenster, schaute hinaus auf eine gottverlassene, farblose Landschaft, nur schwarz und weiß, und anschließend ging ich zurück zum Bett. Es war wunderbar. Es war das erste Mal, dass ich gehen konnte ohne auszuscheren. Ich konnte geradeaus gehen, umdrehen und geradeaus wieder zurückgehen. Ich hätte auf die Knie fallen und mich bedanken können, mich auf den Knien bedanken. Doch da bekam ich noch mehr Besuch. Es war ein Pfarrer. Ich brauchte keinen Pfarrer. Doch er kam an diesem Tag nicht als Pfarrer zu mir. Er kam als Übermittler. »Übermittler?« Der Pfarrer räusperte sich und nahm sich viel Zeit. »Ihre Mutter liegt im Sterben, Sir«, sagte er schließlich. Ich setzte mich aufs Bett. Ich hörte, was er sagte. Es war meine Schuld. Ich hatte es ja geschrieben. Ich schrieb, dass meine Mutter sterben würde. War das der einzige wahre Satz, den ich jemals würde schreiben können? Dass meine Mutter sterben würde? »Woher wissen Sie das? Dass meine Mutter stirbt?« Der Pfarrer drehte sich zur Tür. Erst jetzt entdeckte ich sie, eine Frau in meinem Alter, sie stand mit verschränkten Armen dort und schaute mich an. Ihr Haar war kurz geschnitten und schwarz, mit feinen grauen Strähnchen. In dem grellen Licht konnte ich sogar das Spinnennetz an Falten um ihre Augen erkennen, die Augen waren braun und sahen mich direkt an, neugierig und traurig zugleich. Und irgendwo da drinnen, hinter all der Zeit, die sie trug, entdeckte ich ein anderes Gesicht, ein Mädchen, das ich vor so langer Zeit flüchtig gekannt hatte, dass es ebenso gut gestern hätte gewesen sein können. »Zeit nach Hause zu fahren«, sagte sie. Die Frau war das Mädchen, das einen Sommer lang Heidi geheißen hatte. Ich rührte mich nicht. »Stimmt es, dass Mutter stirbt?« Sie trat an mein Bett. »Ja, das stimmt. Du musst dich beeilen.« »Wie hast du mich gefunden?« »Darüber können wir unterwegs reden.« »Mein Gepäck. Die Schreibmaschine. Das Manuskript.« »Das ist alles geregelt. Im Bad liegt saubere Wäsche für dich. Aber beeil dich jetzt, du Trödeltasche.« Sie half mir auf. Ich ging ins Bad. Heidi hatte mich abgeholt. Heidi hatte mich gefunden. Das konnte nicht wahr sein. Meine Gedanken waren nicht groß genug, um das zu umfassen, was nicht wahr sein konnte. Dennoch war es wahr. Ich unterschrieb einige Papiere, die der Sheriff mir hingelegt hatte. Dann nahmen wir den Fahrstuhl nach unten, und ich folgte Heidi zum Parkplatz, wo sie eine silberfarbene Limousine per Knopfdruck öffnete. Meine Koffer lagen im Kofferraum. Wir setzten uns hinein. Sie gab mir eine viereckige, versiegelte Plastiktüte mit den Tabletten. Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte sie nicht haben. Ich verdiente die Schmerzen. Ich verdiente die Unruhe. Endlich fuhren wir aus dieser Stadt fort, die nur ein weißer Fleck auf der großen Landkarte war. Wir kamen an einer Kirche vorbei, wo eine Beerdigung stattfand, nicht nur eine, drei Särge standen neben ihren Gräbern, bereit, in die harte, raue Kälte hinabgelassen zu werden, die die Erde hier ausmachte. Wir entdeckten den Pfarrer, den Arzt und den Sheriff. Nur wenige Menschen waren gekommen. Waren das die Zeichen, die zu mir zurückkehrten, die Zeichen und die Zahlen? Sollte ich heimkehren zu drei Särgen? Wenn meine Mutter in dem einen lag, für wen waren dann die anderen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher