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Der Sommer des Commisario Ricciardi

Der Sommer des Commisario Ricciardi

Titel: Der Sommer des Commisario Ricciardi
Autoren: Maurizio de Giovanni
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raubt.
    Und ihr, meine kleinen Freundinnen, seid völlig hilflos. Ohne mich würdet ihr sterben, austrocknen und verbrennen, eure zarten Zweige gen Himmel strecken und um Linderung, ein Tröpfchen Regen bitten. Seit sechsundsechzig Tagen hat es nicht geregnet. Seit sechsundsechzig Tagen liegt euer Leben in meiner Hand: Blatt für Blatt, Knospe für Knospe.
    Ich muss euch gießen, am besten morgens, bevor die Sonne aufgeht und ihre Strahlen auf der Terrasse alle Feuchtigkeit aufsaugen. Wie gerne würde ich weiterschlafen oder mit offenen Augen im Bett liegen und träumen. Mich erinnern. Pläne schmieden, die vielleicht nie umzusetzen sind. Doch ich liebe euch, meine reizenden stillen Freundinnen, und Liebe bedeutet Opfer, das weiß jeder. Also stehe ich auf, nehme mir den Eimer und schenke euch mit jedem Gang zum Brunnen einen weiteren Tag Leben. Ihr könnt nicht vom Fleck, euer Platz ist hier auf dieser Terrasse. Zum Glück kann ich es und schenke euch das Leben.
    Schön zu sehen, wie ihr es mir dankt, mit neuen Düften und neuen Blüten. Auch ihr schenkt Leben. Wie viele Insekten man hört, was für ein Summen! Ein wahres Wunder, wie das Leben sich vervielfacht, sich in tausend Teile teilt. Jeder hat seinen Platz, jeder erfüllt seinen Part.
    Leben zu schenken ist etwas Wunderbares. Man wird zum Gott. Und Gott entscheidet auch über den Tod.
     
    Nachdem sie Camarda und Cesarano angewiesen hatten, niemanden durch das Tor zu lassen, folgten Ricciardi und Maione dem winzigen Pförtner in den Hof. Neben seiner Statur, der schrillen Stimme und riesigen Nase war auch der Gang des Mannes urkomisch: Seine kurzen, federnden Schritte wirkten wie abgehackte Hopser. Außerdem war ihm die Uniform zu weit und sein Hut rutschte ständig zur Seite. Rückte er ihn kurz darauf mit beiden Händen wieder zurecht, sah man nur seine Fingerspitzen, die aus zu langen Ärmeln hervorschauten.
    Der Hof schien auf den ersten Blick kleiner zu sein als die der anderen Adelspaläste, die Ricciardi bisher gesehen hatte; doch dann bemerkte er, dass ein großes Hortensienbeet in seiner Mitte ihn schmaler wirken ließ. Als er sah, dass die Polizisten die Blumen betrachteten, sagte Sciarra, ohne seine Schritte zu verlangsamen:
    »Die Blumen gehören dem Sohn des Herzogs, er ist verrückt danach, das heißt, der junge Herr liebt Blumen, er legt großen Wert darauf, dass es das ganze Jahr über welche gibt.«
    Ricciardi schaute sich um, entschloss sich aber dann, den Ort später noch genauer in Augenschein zu nehmen. Ihm fielen vier breite Säulen in den Ecken des Hofes auf, die je nach Bedarf Schatten und Schutz spenden konnten. Einem schwitzenden Lieferanten zum Beispiel, oder auch einem Mörder.
    Gegenüber dem Eingangstor, auf der anderen Seite des Hofes, führte eine großzügige Freitreppe nach oben. Direkt hinter dem Eingang befand sich rechts ein enger Raum ohne Tür, in dem ein Stuhl und ein kleiner Tisch standen. Maione wandte sich an den Pförtner:
    »Sitzen Sie dort, wenn Sie arbeiten?«
    »Jawohl, Brigadiere, so ist es. Wenn das Tor offen ist, bin ich die ganze Zeit über dort drinnen.«
    Von der Treppe her näherten sich zwei Frauen. Die eine von ihnen war sehr stattlich, groß und beleibt, trug eine weiße Schürze über einem blauen Kittel und hatte die Haare am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden. Ihr Gesicht war blass, auf dem Hals prangte ein roter Fleck, sie knetete sich die Hände: Offensichtlich war sie sehr aufgewühlt. Die andere, jüngere Frau war dürr und kantig. Sie trug den schwarzen Arbeitskittel eines Küchenmädchens und betupfte sich fortwährend schluchzend die Augen mit einem schmutzigen Taschentuch.
    »Das ist Signora Concetta, unsere Haushälterin«, stellte Sciarra das Mannsweib vor, indem er mit dem baumelnden Ärmel auf sie wies, »und das ist meine Frau Mariuccia, sie arbeitet als Dienstmädchen.«
    Maione tippte sich an den Hut.
    »Brigadiere Maione, vom Polizeipräsidium. Commissario Ricciardi, der das Einsatzkommando leitet. Wie heißen Sie mit Familiennamen, Concetta?«
    Die Frau antwortete flüsternd. Ihr war beigebracht worden, im Haus leise zu reden, und selbst in ihrer Aufregung konnte sie daran nichts ändern.
    »Concetta Sivo, zu Ihren Diensten. Wie Peppino Ihnen bereits sagte, bin ich die Haushälterin der Herrschaften. Die Herzogin … nun, ich habe sie gefunden, also als Erste gesehen, was passiert ist. Was für ein Unglück.«
    Bei den Worten der Haushälterin brach das Dienstmädchen erneut in
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