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Der Sommer des Commisario Ricciardi

Der Sommer des Commisario Ricciardi

Titel: Der Sommer des Commisario Ricciardi
Autoren: Maurizio de Giovanni
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Freunden war nichts bekannt. Weder Frauen noch Männer interessierten ihn und noch nie hatte ihn jemand im Bordell oder im Theater gesehen. Er verbrachte keinen Abend außer Haus. Ricciardi flößte den Leuten jenesMisstrauen ein, das man einem Menschen entgegenbringt, der ohne Laster zu sein scheint und folglich auch keine Tugenden besitzen kann.
    Seine Vorgesetzten, allen voran Angelo Garzo, der stellvertretende Polizeipräsident, gaben sich keine Mühe, ihr Unbehagen gegenüber diesem Mann zu verbergen, der trotz seines großen Talents und Geschicks keinerlei Ehrgeiz hatte. Es hieß, Ricciardi sei steinreich, im Besitz riesiger entfernt gelegener Ländereien, und strebe demnach nicht nach einem höheren Gehalt. Das einzige, was ihn zu interessieren schien, waren die Ermittlungen.
    Dabei zeigte er sich jedoch in keiner Weise befriedigt, wenn er den Schuldigen endlich gefasst hatte, sondern beschränkte sich darauf, ihn aus seinen beunruhigend klaren Augen fest anzublicken. Dann drehte er sich um und ging wieder zur Tagesordnung über. Wandte sich neuen Verbrechen zu.
    Ricciardi war stets früh im Büro, auch wenn er Sonntagsdienst hatte. Auf dem langen Weg von der Via Santa Teresa bis zum Ende der Via Toledo begegnete er dann kaum einem Menschen, was ihm nicht leid tat. Er mochte die langsam erwachende Stadt, wenn ein paar klapprige Milch- oder Gemüsewagen die Straße entlangholperten und die Gesänge der ersten Waschfrauen von den Brunnen herüberklangen, die versteckt in den von ihm durchquerten Arbeitervierteln lagen. Beim Gehen genoss er die letzte Frische, die von der Nacht übrig geblieben war. Die Hitze in diesem August war unerträglich, und es hatte seit über zwei Monaten nicht geregnet.
    Im Halbdunkel bei angelehnten Fensterläden an seinem Schreibtisch sitzend, sammelte der Kommissar Ideenund Gedanken für den Tag. Seine Arbeit bestand zu einem großen Teil aus mechanischen Gesten, Bürokratie, auszufüllenden Formularen, der Anwesenheitsliste: kaum der Rede wert, die Anwesenden an diesem Tag. Der Platz draußen war noch wie ausgestorben. Man hörte den heiseren Gesang eines Betrunkenen. Noch jemand, der Sonntagsdienst hat, dachte Ricciardi.
    Die Tür stand halb offen, um ein wenig Luftbewegung zu ermöglichen. Lichtstreifen fielen auf die Wand unter den offiziellen Porträts des kleinen Königs und des dicken Regierungschefs. Eine Möwe gab den Gegenpart zum Lied des Betrunkenen, und Ricciardi dachte bei sich, dass sie den Ton besser hielt als ihr Gesangspartner. Müßig schaute er aus dem Türspalt in den für ihn sichtbaren Teil des Treppenhauses.
    Auch im Halbdunkel waren die beiden Toten klar zu erkennen. Beide standen nebeneinander, in Ewigkeit vereint, obwohl im Leben kaum miteinander bekannt. Ein Denkmal für Räuber und Gendarm, dachte Ricciardi. Allerdings ein unsichtbares Denkmal – für die meisten jedenfalls.
    Von seinem Platz aus sah der Kommissar den breiten, schwarzen Krater seitlich im Kopf des Diebes und das kleine Einschussloch an der Schläfe des Polizisten, das Rinnsal aus Blut und Hirnmasse, das ihm bis zum Hals floss; und er hörte die letzten Gedanken der beiden als leises Murmeln. Ihr habt keinen Dienstplan, dachte er bitter. Ihr seid jeden verfluchten Tag hier und verderbt mir die Laune mit dem unnötigen Schmerz eurer sinnlos geopferten jungen Leben.
    Er wandte den Blick ab und stand auf; die Hitze wurdevon Minute zu Minute drückender, auf der Straße hörte man nun das ein oder andere Fahrzeug in Richtung Meer fahren. Ricciardi ging zum Kalender und riss das Blatt des vergangenen Tages ab. Dann las er das neue Datum: Sonntag, der 23. August 1931 – IX. Jahr Neun. Der neuen Ära. Des Zeitalters der Hüte mit Schleifen und der Stiefel, der seitengroßen Fotografien mit Pflug und Hemdsärmeln. Des Enthusiasmus und des Optimismus. Der Ordnung und der sauberen Städte, per Dekret.
    Zu schön, wenn ein Dekret reichen würde, dachte Ricciardi. Leider dreht die Welt sich noch genauso wie vor dem Jahr Eins: dieselben Verbrechen, dieselben kranken Leidenschaften.

    III    Verflixter Sonntagsdienst, dachte der Brigadiere Raffaele Maione schnaufend auf seinem Weg von der Piazza Concordia zum Polizeipräsidium. Die Hitze war bereits mörderisch, dabei war es erst acht Uhr. Verflixter Sommer.
    Der Brigadiere raste vor unberechtigter Wut. Doch er glaubte, gute Gründe zu haben. Eigentlich konnte er sich nicht beschweren, zum ersten Mal seit vor drei Jahren sein Sohn Luca von einem
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