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Der Sommer des Commisario Ricciardi

Der Sommer des Commisario Ricciardi

Titel: Der Sommer des Commisario Ricciardi
Autoren: Maurizio de Giovanni
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Verschlossenheit.
    Später hatte er sich in sein Zimmer zurückgezogen. Rosa sah beim Spülen aus dem Küchenfenster. Der Regen wurde stärker, die Luft roch nach Herbst. Die Jahreszeiten vergehen, dachte sie, und wiederholen sich immer wieder, doch jede hinterlässt ihre Spuren. Das Wohnzimmerfenster der Colombos auf der anderen Straßenseite war dunkel: kein Besuch heute Abend. Ein gutes Zeichen, sagte sich die Kinderfrau. Alles lief so, wie es sollte.
    Sie fragte sich, wozu wohl das Buch gut war, das Ricciardi hinter der losen Fliese unterm Kleiderschrank versteckt hatte, damit sie es nicht fand. Natürlich hatte sie es aber doch gefunden, gleich morgens schon; es war die erste Stelle, an der sie täglich nachsah. Das Versteck nutzte er bereits seit Jahren. Sie hatte nur den Titel lesen können, weil sie zwar die Großbuchstaben kannte, doch die kleinen nicht. Ihr fiel die Fremde ein, von der die Friseurin gesprochen hatte. Aus irgendeinem Grund beunruhigte sie der Gedanke an diese Frau. Zunächst einmal hätte ihre Anwesenheit Ricciardi doch glücklich machen müssen; stattdessen war seine Miene finsterer als sonst. Außerdem stimmte ihre Beschreibung so ganz und gar nicht mit dem überein, was sie sich für ihren Jungen gewünscht hätte. Kaufe deines Nachbarn Rind und freie deines Nachbarn Kind, dachte sie.
    Dann sah sie wieder aus dem Fenster, auf das gerade ein heftiger Schauer niederging. Vielleicht könnte ich das Fräulein Colombo ja eines Nachmittags auf einen Kaffee einladen. Jetzt, wo die Hitze nachlässt und es draußen regnet. Sie hörte, wie in Ricciardis Zimmer ein Stuhl verrückt wurde. Lächelnd trocknete Rosa den letzten Teller ab.
     
    Beim Hereinkommen hatte er sofort gemerkt, dass in Enricas Küche wieder Licht war. Durch den starken Regen hindurch konnte er zwar leider nicht erkennen, wer da unter der Lampe saß, um zu lesen oder zu sticken, doch er brauchte keine Bestätigung.
    Die Initiative ergreifen, dachte er. Alle sagten ihm, er solle die Initiative ergreifen. Aus freien Stücken. Als ob das so einfach wäre. In Gedanken hörte er die Worte Modos, Don Pierinos, Ettore Mussos – Menschen, die zu ihren Entscheidungen standen und dafür etliche Hindernisse überwunden hatten.
    Natürlich traf auch er seine Entscheidungen, die im Übrigen nicht gerade leicht waren. Zum Beispiel hatte er gerade erst beschlossen, einen Mörder auf freiem Fuß zu lassen, nur weil ein kleines Mädchen ihn verzaubert hatte.
    Noch kurz zuvor war er fest entschlossen gewesen, den Mann einzusperren, schließlich war er mindestens genauso schuldig wie Sofia Capece. Dann aber hatte er überlegt, dass die Entscheidung ganz allein in seiner Macht stand. Er, Ricciardi, war es, der beschließen musste, ob vier Kinder zu einem Leben in Schande und ein Mann zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurden, und alles nur aufgrund der Regung eines Augenblicks, der Furcht davor, wieder ins Elend abzugleiten. Er hatte sich entschieden.
    Wie konnte das sein?, fragte er sich, während er die vom Regen gepeitschte Fensterscheibe anstarrte. Wie kann ein und dieselbe Person so schnell einen Beschluss dieser Tragweite fassen und dann monatelang jeden Abend hier stehen und aus dem Fenster sehen, ohne zu wissen, was zu tun ist?
    Er bückte sich unter den Schrank, schob die Fliese beiseite und nahm das Buch. In der Küche hörte er Geschirr klappern; Rosa würde sein Versteck bestimmt nie finden, dachte er. Sie schaffte es nicht mehr, sich zu bücken. Noch einmal warf er einen Blick auf die andere Straßenseite, konnte aber nicht mehr als das Licht erkennen, denn es regnete zu stark.
    Er ging zu dem schmalen Schreibtisch und setzte sich, zündete die Lampe an. Bedächtig legte er das Buch vor sich. Ihm fiel seine Verlegenheit ein, als er dem Verkäufer in der Buchhandlung den Titel genannt hatte: Der moderne Liebesbrief. Ein Ratgeber .
    Ich muss die Initiative ergreifen, dachte er und seufzte tief. Die bloße Vorstellung daran erschreckte ihn zu Tode.
    Er nahm ein Blatt zur Hand und tauchte die Feder in die Tinte: Wertes Fräulein , schrieb er.
    Dann hielt er einen kurzen Moment inne. Und seine Gedanken verloren sich in den großen Tropfen, die an seinem Fenster herabliefen.
     
     
     
     

Danksagung
     
    Ricciardi hat einige Wegbegleiter, auf die er unmöglich verzichten könnte.
    Er bewegt sich gemäß den Angaben Aldo Putignanos, eines brüderlichen, unersetzlichen Freundes.
    Antonio kennt das Ziel seines Weges und weiß, wie
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