Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer des Commisario Ricciardi

Der Sommer des Commisario Ricciardi

Titel: Der Sommer des Commisario Ricciardi
Autoren: Maurizio de Giovanni
Vom Netzwerk:
Männer im Wartesaal des Bahnhofs, die ein Gespräch mit ihr anfangen wollten, demonstrativ ignorierte, gestand Livia sich ein, dass es stimmte: Sie dachte an anderes. Und zwar an zwei außergewöhnlich grüne Augen, deren Blick sie zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt begegnet war: bei den Ermittlungen zur Ermordung ihres Mannes.
    Diese Augen hatte ihr Charme völlig kalt gelassen, was Livia nicht gewohnt war. Und doch bestieg sie nicht aus einer bloßen Laune heraus einen Zug in die Stadt des gleißenden Lichts und der vollen Schatten. Ihre Freundinnen hatten unbedingt wissen wollen, ob eine Liebesgeschichte hinter dem scheinbar makabren Vorhaben steckte, ausgerechnet dort Ferien zu machen, wo ihr Mann ermordet worden war. Livia hatte ihnen erklärt, sie hoffe dadurch die Gespenster der Vergangenheit endgültig zu vertreiben. In Wahrheit allerdings wollte sie herausfinden, was sich hinter ihren unruhigen Träumen verbarg. Und um das herauszufinden, musste sie jene Augen wiedersehen.
    Der Eilzug fuhr in den Bahnhof ein. Die beiden Männer hatten sich erboten, ihre Koffer zu tragen, dafürschenkte sie ihnen nun ein Lächeln. Sie hatte wahrlich lange genug gewartet, um sich selbst etwas besser zu verstehen.
    Zu lange.

    IV    Ricciardis Bürotür öffnete sich, und herein trat ein verschwitzter Brigadiere Maione.
    »Guten Morgen und einen schönen Sonntag, Commissario. Gehören Sie auch zu den Glücklichen, die arbeiten dürfen?«
    Ricciardi lächelte halbherzig.
    »Ciao, Maione. Komm nur rein. Wie lässt sich der Tag denn an?«
    Maione trat ein, trocknete sich die Stirn mit seinem Taschentuch und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
    »Wie gestern, Commissario. Es herrscht eine Bullenhitze. Schon am frühen Morgen kriegt man kaum Luft, außerdem hab ich schon eine schlimme Nacht hinter mir, wie ein Kotelett hab ich mich im Bett hin und her gedreht. Irgendwann musste ich mich dann raus auf den Balkon setzen, um ein wenig durchzuatmen – aber von wegen, nichts da, ich hab kein Auge zugetan. War ich vielleicht froh, als es Morgen wurde und ich zur Arbeit gehen konnte.«
    Ricciardi schüttelte den Kopf.
    »Ich verstehe nicht, was dich dazu bewegt, am Sonntag hierherzukommen. Du hast eine wunderbare Familie, wahrscheinlich hat deine Frau heute sogar ihr köstliches Ragù gekocht. Wärst du nicht besser zu Hause bei deinen Kindern geblieben?«
    Maione verzog das Gesicht.
    »Sprechen wir lieber nicht vom Essen. Ich will ja unbedingt abnehmen, es muss einfach sein: Die Jacke meiner Sommeruniform geht nicht mehr zu, sehen Sie, ich musste die Winterjacke anziehen und komme fast um vor Hitze. Um genau zu sein, hab ich mich für den Sonntag gemeldet, nur weil Lucia so gut kocht, ich weiß doch schon, dass ich mich nicht beherrschen kann und gleich drei Teller Ragù esse. Nein, nein: Hier bin ich besser aufgehoben. Heute sollte es ruhig bleiben, nicht? Wer wird bei dieser Hitze schon etwas anstellen?«
    Ricciardi war aufgestanden und schaute zum Fenster hinaus, die Hände in den Taschen vergraben.
    »Keine Ahnung. Aber man kann nie wissen, die Leute sind unberechenbar: Ihre Gefühle brechen zu den merkwürdigsten Zeitpunkten aus. Die Hitze treibt sie in den Wahnsinn und raubt ihnen die Geduld; etwas, das sie im Winter oder im Frühling hinnehmen würden, regt sie im Sommer auf. Glaube mir, in dieser Jahreszeit geschehen die irrwitzigsten Dinge.«
    Maione betrachtete zärtlich Ricciardis Rücken. Er war der Einzige im Polizeipräsidium, und vermutlich in der ganzen Stadt, der den Kommissar wirklich gern hatte. Er mochte es, dass Ricciardi sich den Schmerz der Opfer und ihrer Angehörigen so zu Herzen nahm, aber auch, dass er die Ursachen bestimmter Verbrechen wenngleich nicht entschuldigen, so doch nachvollziehen konnte und an der inneren Zerrissenheit der Schuldigen teilhatte.
    Hin und wieder bekümmerten ihn allerdings die Einsamkeit des Kommissars und das Leiden, das sein Leben unterschwellig zu begleiten schien. Er hatte auch mit seiner Frau darüber gesprochen. Lucia hatte mit einem geheimnisvollen Lächeln geantwortet, dass jede Frucht zu ihrer eigenen Jahreszeit reife. Weiß der Himmel, was sie damit meinte.
    »Tja, was soll ich Ihnen sagen? Hoffen wir mal, dass sich heute niemand aufregt. Dass die Leute, statt sich umzubringen oder sich die Köpfe einzuschlagen, lieber nach Mergellina baden gehen, einen anständigen Teller Pasta essen, die Glücklichen, und dann in der Sonne einschlafen. Und dass sie uns armseliges
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher