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Der Sommer der toten Puppen

Der Sommer der toten Puppen

Titel: Der Sommer der toten Puppen
Autoren: Antonio Hill
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meine ich.«
    »Hattest du Zweifel?« Er zwinkerte ihr zu. »Danke, dass du mich gefahren hast. Eins noch«, er wusste nicht, wie er es fragen sollte, ohne sie zu beunruhigen: »Ist dir in letzter Zeit irgendwas seltsam vorgekommen?«
    »Inwiefern seltsam?«
    »Nichts … hör nicht auf mich. In deiner Gegend hat es mehrere Einbrüche gegeben. Halt die Augen offen, ja?«
    Die Abschiede waren unangenehm, und sie konnten beide nicht ungezwungen damit umgehen. Ein Kuss auf die Wange, ein mit dem Kopf angedeutetes Auf Wiedersehen … Wie sollte man sich von einem Menschen verabschieden, mit dem man siebzehn Jahre zusammengelebt hatte? Der jetzt ein anderes Zuhause hatte, einen anderen Partner, ein anderes Leben? Vielleicht waren sie deshalb beim letzten Mal zusammen im Bett gelandet, dachte Héctor. Weil sie nicht wussten, wie sie sich voneinander verabschieden sollten.
    Es war Sex mit Vorankündigung gewesen. Etwas, von dem sie beide wussten, dass es passieren würde, als Ruth nach dem Abendessen, zu dem sie sich verabredet hatten, um über die anstehenden Prüfungen ihres Sohnes zu sprechen, mit in die Wohnung kam. Héctor öffnete die Flasche Rotwein, die schon im Küchenschrank gewesen war, als sie ihn verließ, vor neun Monaten, nachdem sie verkündet hatte, es gebe einen Teil ihrer Sexualität, den sie erkunden wolle und müsse. Jedenfalls taten beide so, als handele es sich nur um einen letzten Schluck, als wollten sie feiern, dass sie ein zivilisiertes Paar waren und es schafften, nach einer plötzlichen Trennung vernünftig miteinander umzugehen. Und während sie auf dem Sofa saßen, auf dem sie sich an so vielen Abenden umarmt hatten, auf dem Ruth so viele späte Stunden auf ihren Mann gewartet hatte und auf dem Héctor, seit die eine Hälfte des Bettes leer geblieben war, um den Schlaf rang, tranken sie ein Glas Wein nach dem anderen, vielleicht um sich Mut anzutrinken für das, worauf sie Lust hatten. Etwas sollte ihren Kopf vernebeln, ihre aufgesetzte Besonnenheit zum Teufel jagen. Egal wer anfing, wer das Spiel eröffnete, der andere fiel ungeduldig, begierig, immer schneller in das Spiel ein. Und vom Sofa glitten sie langsam auf den Teppich, zogen sich dabei aus, lösten ihre Lippen nicht länger als unbedingt nötig und suchten wieder nach der Zunge des anderen, als bezögen sie daraus ihren Sauerstoff. Ihre Körper glühten, und ihre Hände, die bekannte Winkel fanden, Flächen heißer Haut, die zu perfekten Zündern wurden, dienten nur dazu, das Feuer anzufachen. Als sie auf dem Teppich lag, dachte sie wohl für einen Moment daran, wie anders es war, sich mit einer Frau zu lieben: die Berührung, der Geruch der Haut, der Rhythmus der Bewegungen. Die Vertrautheit. Doch ihre Gedanken vertrieben den Alkoholdunst bestimmt nur für ein paar Sekunden, und schon sank er auf sie, erschöpft und befriedigt. Ruth stöhnte leise auf, mehr vor Schmerz als vor Lust; dann drehte sie den Kopf und sah auf dem Boden ihre weinbefleckte Bluse und ein umgekipptes Glas. Sie gab Héctor noch einen höflichen Kuss, der nichts gemein hatte mit den Küssen von vorhin, und versuchte ihn sanft zur Seite zu schieben. Héctor brauchte ein paar Sekunden, ehe er sich bewegte. Schließlich erhob er sich, schweißgebadet, und Ruth stand auf, etwas zu rasch, wie jemand, der nach einem Einsturz schnell das Weite sucht. Dieselbe Dringlichkeit, die sie vom Sofa auf den Teppich hatte gleiten lassen, trieb sie jetzt zur Tür. Oder sie wollte ihm nicht ins Gesicht sehen, hatte ihm nichts zu sagen. Als sie sich den Slip hochzog, war es ihr offenbar peinlich. Sie nahm ihre Kleider vom Boden auf, wandte sich ab und zog sich schnell an. Vielleicht dachte sie, Héctor wolle sie etwas fragen, aber das Entscheidende für sie war jetzt, von dort fortzukommen.
    Als er sie hinausgehen sah, wusste er, dass seine Ehe endgültig gestorben war. Wenn bisher noch die Möglichkeit bestanden hatte, dass ihre Beziehung aus dem Koma erwachte, dass Ruths Eskapade mit einer anderen Frau nur eben das war, ein kleines Abenteuer, dann gab es jetzt keinen Zweifel mehr: Heute hatten sie sie beerdigt. Er tastete nach einer Zigarette und rauchte allein, auf dem Boden sitzend, an das Sofa gelehnt, vor sich das umgekippte Glas und die restlos leere Flasche.
    Diesmal war der Abschied leichter. Sie drehte sich um und stieg in den Wagen, während er den Schlüssel in das Schloss der Haustür steckte. Im Rückspiegel sah sie, wie er mit dem Koffer in der Hand hineinhinkte. Sie
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