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Der Sommer der toten Puppen

Der Sommer der toten Puppen

Titel: Der Sommer der toten Puppen
Autoren: Antonio Hill
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einen Tisch mit Stühlen, um im Sommer dort zu Abend zu essen. Er war kaum noch hinaufgegangen, seit Ruth ausgezogen war.
    Die Tür im ersten Stock ging gerade auf, als er vorbeikam, und Carmen, die Hausbesitzerin, grüßte ihm lächelnd hinterher. Seit Héctor allein wohnte, schaute er manchmal morgens auf einen Kaffee bei ihr vorbei, aber heute hatte er weder Zeit noch Lust.
    Aktenzeichen 1231-R
    H. Salgado
    Laufendes Verfahren
    Drei kurze Zeilen, notiert mit schwarzem Filzstift auf einem gelben, an einer gleichfarbigen Mappe klebenden Post-it. Um sie nicht sehen zu müssen, schlug Kommissar Savall die Mappe auf und ging noch einmal die Akte durch. Als würde er sie nicht auswendig kennen. Aussagen. Vernehmungsprotokolle. Ärztliche Gutachten. Fotos der Wunden von diesem Dreckskerl. Fotos des armen nigerianischen Mädchens. Fotos der Wohnung im Raval, wo sie die jungen Frauen zusammengepfercht hatten. Sogar mehrere Zeitungsausschnitte, darunter ein paar – wenige, Gott sei Dank – ziemlich perfide, in denen man eine eigene Tatversion zum Besten gab und mit Begriffen wie Rassismus, Polizeibrutalität und Machtmissbrauch nicht sparte. Er schlug die Mappe wieder zu und sah nach der Uhr auf dem Schreibtisch. Zehn nach neun. Fünfzig Minuten. Er kippte gerade den Stuhl zurück, um die Beine auszustrecken, als jemand an die Tür klopfte und sie fast gleichzeitig öffnete.
    »Ist er schon da?«, rief er.
    Die Frau, die in sein Dienstzimmer trat, schüttelte den Kopf und stützte, ganz langsam, beide Hände auf die Lehne des Stuhls vor dem Tisch. Sie schaute ihm in die Augen und kam gleich zur Sache:
    »Was willst du ihm sagen?« Die Frage klang wie ein Vorwurf, eine Salve aus fünf Wörtern.
    Savall zuckte kaum merklich mit den Achseln.
    »Wie die Dinge stehen. Was soll ich ihm schon sagen?«
    »Genial.«
    »Martina ...« Er wollte harsch klingen, aber er schätzte sie zu sehr, als dass er ihr wirklich böse sein konnte. Und leiser: »Mir sind die Hände gebunden, verdammt noch mal.«
    Sie gab nicht auf. Sie zog den Stuhl zurück, setzte sich und schob ihn wieder an den Tisch.
    »Das könnte denen so passen. Der Kerl ist längst aus dem Krankenhaus, ist wieder zu Hause und macht ungerührt weiter mit seinen Geschäften, während ...«
    »Mach mich nicht fertig, Martina!« Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Noch am Morgen hatte er sich vorgenommen, ruhig zu bleiben. Er öffnete die gelbe Mappe, nahm die Fotos heraus und legte sie auf den Tisch wie vier Asse beim Poker. »Der Kiefer gebrochen. Zwei gebrochene Rippen. Prellungen an Schädel und Unterleib. Ein Gesicht wie aus dem Schlachthaus. Und alles nur, weil Héctor den Kopf verloren hat und bei diesem Arschloch auftauchen musste. Und er hat noch Glück gehabt, keine inneren Verletzungen. Er hat ihn nach allen Regeln der Kunst verdroschen.«
    Das alles wusste sie. Sie wusste auch, dass sie genau dasselbe gesagt hätte, wenn sie auf dem Stuhl gegenüber säße. Aber wenn eins die Unterinspektorin Martina Andreu auszeichnete, dann die unbedingte Loyalität zu ihren Leuten: zu ihrer Familie, ihren Kollegen, ihren Freunden. Für sie teilte sich die Welt in zwei klar getrennte Seiten, ihre Leute und die anderen, und Héctor Salgado gehörte ohne Zweifel zur ersten Gruppe. Mit einer Stimme, die ihren Chef mehr verstörte als der Anblick der Fotos, konterte sie:
    »Warum holst du nicht die anderen raus? Die von dem Mädchen. Warum sehen wir uns nicht an, was dieser schwarze Hexenmeister der Kleinen angetan hat?«
    Savall seufzte.
    »Vorsicht von wegen schwarz.«
    Martina verdrehte die Augen, aber Savall ließ sich nicht beirren.
    »Das fehlte uns gerade noch. Und das mit dem Mädchen rechtfertigt gar nichts. Du weißt es, ich weiß es, Héctor weißes. Und was noch schlimmer ist, der Anwalt von diesem Arschloch auch. Vorgestern war er hier.«
    Martina zog eine Augenbraue hoch.
    »Ja, der Anwalt von ... wie immer er heißt. Ich habe Klartext mit ihm gesprochen: Entweder er zieht die Anzeige gegen Salgado zurück, oder sein Mandant hat noch auf dem Weg zum Klo einen Polizisten an den Hacken.«
    »Und?«
    »Er hat gesagt, er müsse sich mit ihm beraten. Ich habe ihm eingeheizt, sosehr ich konnte. Off the record. Er wollte mich heute Morgen anrufen, vor zehn Uhr.«
    »Und wenn er darauf eingeht? Was hast du ihm dafür versprochen?«
    Savall blieb keine Zeit für eine Antwort. Das Telefon auf seinem Schreibtisch schrillte wie eine Alarmglocke. Er bedeutete der Unterinspektorin
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