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Der Sommer der toten Puppen

Der Sommer der toten Puppen

Titel: Der Sommer der toten Puppen
Autoren: Antonio Hill
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Tränen kamen.
    »Was sollte ich ihm schon schreiben?« Ihre Stimme war belegt. »Seine Mail kam aus dem Nichts ... Zuerst wusste ich nicht, was ich antworten sollte.« Sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und wischte eine Träne fort. »Ich habe lange nachgedacht. Habe mehrere Mails geschrieben, sie aber nicht abgeschickt. Er hat nicht lockergelassen. Schließlich habe ich ihm geantwortet, und wir haben uns eine Weile geschrieben, bis er die Möglichkeit andeutete, nach Paris zu kommen.«
    »Aber gesehen hast du ihn nicht?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Du weißt, ich bin immer ein Feigling gewesen«, sagte sie mit bitterem Lächeln. »Ich habe ihn wohl wieder enttäuscht.«
    Fèlix senkte den Kopf.
    »Und deshalb bist du hiergeblieben? Du tust dir nur weh. Du musst dein Leben wiederfinden. Zurück nach Paris gehen.«
    »Sag mir nicht, was ich tun soll.« Sie stand reglos da und schaute dem Priester zum ersten Mal unbeirrt in die Augen. »Ich werde so lange bleiben, bis ich weiß, was in dieser Nacht passiert ist. Vage Erklärungen helfen mir nicht weiter: Vielleicht ist er gestürzt, vielleicht gesprungen. Vielleicht wurde er gestoßen ...«
    »Es war ein Unfall, Joana. Quäl dich nicht.«
    Sie hörte ihm nicht zu und sprach weiter, als könnte sie nichts dagegen tun.
    »Außerdem verstehe ich nicht, wie Enric sich damit zufriedengibt. Will er gar nicht wissen, was passiert ist?«
    »Er weiß es doch. Es ist eine Tragödie, aber man muss nach vorne schauen. Sich im Schmerz zu wälzen macht krank.«
    »Die Wahrheit macht nicht krank, Fèlix! Sie ist notwen-dig ... Ich zumindest brauche sie.«
    »Wozu?« Er ahnte, dass sie der Sache auf den Grund kamen. Er stand auf und trat auf seine ehemalige Schwägerin zu. Ihr knickten die Knie ein, und Fèlix fing sie gerade noch auf.
    »Um zu wissen, ob es meine Schuld ist«, flüsterte Joana. »Und welchen Preis ich bezahlen muss.«
    »Das ist nicht der Weg, eine Schuld zu sühnen, Joana.«
    »Eine Schuld zu sühnen!« Sie fasste sich an die Stirn, schwitzte wieder. »Ihr redet immer noch das gleiche Zeug, Fèlix. Schuld sühnt man nicht, man trägt sie!«
    Das Echo ihres Satzes hallte in der gespannten Stille wider.
    »Du wirst vielen Menschen, die es zu verwinden suchen, weh tun. Enric, seiner Frau, ihrer Tochter. Mir. Auch ich mochte Marc sehr, er war für mich mehr als ein Neffe. Ich habe ihn aufwachsen sehen.«
    Mit einem Ruck richtete sie sich auf, nahm Fèlix’ Hand und schob sie beiseite.
    »Manchmal ist der Schmerz unvermeidlich, Fèlix.« Sie schenkte ihm ein trauriges Lächeln, bevor sie ihm den Rücken zukehrte, auf die Wohnungstür zuging und sie öffnete. Als er vor ihr stand, sagte sie: »Man muss lernen, mit dem Schmerz zu leben.« Dann schlug sie einen anderen Ton an und sprach fast kühl: »Heute Morgen habe ich mit Savall gesprochen. Er hat einen Inspektor mit dem Fall betraut. Sag das Enric. Die Sache ist noch nicht beendet, Fèlix.«
    Er nickte, gab ihr einen Kuss auf die Wange und trat hinaus. Auf dem Treppenabsatz drehte er sich noch einmal zu ihr um.
    »Es gibt Dinge, die man besser nicht beendet.«
    Joana tat, als hätte sie es nicht gehört, und schloss die Tür. Ihr fiel die ungelesene Mail wieder ein.

3
    Es war halb eins, als ein Taxi Héctor vor dem Postamt absetzte, diesem massigen alten Klotz, der sich schützend vor einem labyrinthischen Geflecht von Gassen behauptete, auf dass sie der Designerwelle, wie sie über das Born und andere nahe Viertel hereingebrochen war, widerstanden. Hier hängten die Leute noch ihre Wäsche auf die Balkons, in so engen Straßen, dass man die des Nachbarn von gegenüber hätte klauen können; die Fassaden waren kaum zu sanieren, da es keinen Platz für Gerüste gab, und in den Erdgeschossen, die einmal leer standen, waren jetzt unzählige pakistanische Lebensmittelgeschäfte und die eine oder andere Bar mit Kachelbildern an den Wänden. Und ebendort, in der Calle Milans, im zweiten Stock eines schmalen, schmutzigen Hauses, hatte Dr. Omar seine Praxis. Als Héctor an die Ecke kam, griff er instinktiv nach seinem Handy, aber dann fiel ihm ein, dass er es am Morgen zuhause gelassen hatte und dass es ohnehin nicht funktionierte. Scheiße ... Er hatte Andreu anrufen und sie fragen wollen, ob Vorsicht geboten war. Anders als er gedacht hatte, war die Straße menschenleer. Aber das war nicht verwunderlich. Viele Bewohner hier, die nach wie vor keine Papiere hatten, waren nach dem Besuch der Polizei lieber zuhause
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