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Der Sommer der toten Puppen

Der Sommer der toten Puppen

Titel: Der Sommer der toten Puppen
Autoren: Antonio Hill
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geblieben. Tatsächlich stand ein Polizist vor der Tür, ein noch recht junger, den Héctor vom Sehen kannte.
    »Inspektor Salgado.« Der Junge schien nervös zu sein. »Die Unterinspektorin Andreu hat mir Bescheid gesagt, dass Sie vielleicht kommen.«
    Héctor fragte ihn mit den Augen, und der Beamte nickte.
    »Gehen Sie hinauf. Ich habe Sie nicht gesehen. Anweisung der Unterinspektorin.«
    Im Treppenhaus roch es feucht. Er begegnete einer farbigen Frau, die den Blick nicht vom Boden wandte. Auf dem Absatz im zweiten Stock gab es zwei Türen, jeweils aus einem anderen Holz. Die dunklere war die, zu der er wollte. Er musste daran denken, was an jenem unheilvollen Abend geschehen war, und plötzlich schoss ihm alles wieder ins Bewusstsein: der blutig zugerichtete Körper des schwarzen Mädchens und eine dichte, herbe Wut, die er weder herunterschlucken noch ausspucken konnte; dann seine geballte Faust, wie sie auf einen Kerl einschlug, den er ein einziges Mal im Vernehmungsraum gesehen hatte. Nebelhafte Bilder, an die er sich am liebsten nicht erinnert hätte.
    Héctor steht an der Ecke und wartet, bis die vierte Zigarette, die er sich in der letzten halben Stunde angezündet hat, aufgeraucht ist.
    Er steigt in den zweiten Stock hinauf. Drückt die Tür des Sprechzimmers auf. Das Zimmer ist so dunkel, dass er unwillkürlich in Deckung geht. Er bleibt reglos stehen, wachsam, bis ein Geräusch ihm anzeigt, dass jemand hinter dem Tisch sitzt. Jemand, der eine Stehlampe anknipst.
    »Kommen Sie herein, Inspektor.«
    Er erkennt die Stimme mit dem ausländischen Akzent.
    »Setzen Sie sich, bitte.«
    Er nimmt Platz. Ein alter Holztisch trennt sie voneinander, wahrscheinlich das Wertvollste in dieser baufälligen Bude, diesem Zimmer mit seinem schweren Geruch.
    »Ich habe Sie erwartet.«
    Der Schatten beugt sich vor, und das Licht der Stehlampe fällt auf ihn. Héctor ist überrascht, als er ihn sieht: Er wirkt älter. Ein schwarzes, schmales, fast zerbrechliches Gesicht und die Augen eines geprügelten Hundes.
    »Wie haben Sie es getan?«
    Er lächelt, aber Héctor könnte schwören, dahinter lauert die Angst. Zu Recht.
    Héctor muss sich beherrschen, um ihn nicht am Hals zu packen und seinen Kopf auf den Tisch zu knallen. Stattdessen ballt er die Fäuste und sagt nur:
    »Kira ist tot.«
    Ihn schaudert, als er ihren Namen ausspricht. Der süßliche Geruch bereitet ihm Übelkeit.
    »Ein Jammer, nicht? Ein wirklich hübsches Mädchen ...« Als spräche er von einem Geschenk, einem Gegenstand. »Wissen Sie was? Ihre Eltern haben ihr diesen absurden Namen gegeben, um sie auf ein Leben in Europa vorzubereiten. Sie haben sie ohne Skrupel verkauft, sie waren überzeugt, dass alles besser wäre als das, was sie in ihrem Dorf erwartet. Von Geburt an haben sie es ihr eingetrichtert. Ein Jammer, dass sie ihr nicht auch beigebracht haben, den Mund zu halten.«
    Héctor muss schlucken. Plötzlich kommen die Wände auf ihn zu, lassen das kleine Zimmer auf die Größe einer Gefängniszelle schrumpfen. Das fahle Licht fällt jetzt auf die Hände des Doktors: feine Hände, die Finger lang wie Schlangen.
    »Wie haben Sie es getan?«, fragt er noch einmal. Und seine Stimme klingt dünn, als hätte er seit Stunden mit niemandem gesprochen.
    »Glauben Sie wirklich, ich hätte so etwas tun können?« Der andere lacht und beugt sich wieder vor, damit die Lampe sein Gesicht anstrahlt. »Sie überraschen mich aufs Angenehmste, Inspektor. Normalerweise macht sich die westliche Welt lustig über unseren alten Aberglauben. Was man nicht sehen und nicht anfassen kann, gibt es nicht. Arme Ignoranten.«
    Héctor spürt die Beklemmung immer stärker. Er kannden Blick nicht von den Händen des Mannes wenden, die jetzt ruhig auf dem Tisch liegen.
    »Sie sind wirklich ein interessanter Typ, Inspektor. Viel interessanter als die meisten Polizisten. Sie hätten bestimmt nie gedacht, dass Sie einmal zur Polizei gehen.«
    »Reden Sie kein dummes Zeug. Ich bin hier, um Antworten zu erhalten, nicht um mir Ihren Scheiß anzuhören.«
    »Antworten, Antworten ... Im Grunde kennen Sie die längst, auch wenn Sie es nicht glauben.«
    »Wie haben Sie das Mädchen bedroht?« Er versucht ruhig zu bleiben. »Wie zum Teufel haben Sie sie so eingeschüchtert, dass sie sich das angetan hat?« Er kann es nicht einmal richtig in Worte fassen.
    Der andere lehnt sich zurück, verbirgt sich im Schatten. Aber seine Stimme erklingt weiter, wie aus dem Nichts:
    »Glauben Sie an Träume,
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