Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer der toten Puppen

Der Sommer der toten Puppen

Titel: Der Sommer der toten Puppen
Autoren: Antonio Hill
Vom Netzwerk:
sich aus dem Griff, aber der Satz schwirrte noch als Echo durch seine Gedanken, wie diese Schmeißfliegen, die immer wieder mit dem Kopf gegen die Scheibe knallen.

2
    Zum ersten Mal seit vielen Tagen verspürte Joana Vidal so etwas wie Ruhe. Jemand hatte sie zurückgerufen, hatte ihr gesagt, dass man weiter ermitteln werde, bis der Fall endgültig abgeschlossen sei. »Wir werden der Sache auf den Grund gehen, Joana, das verspreche ich dir«, hatte Savall versichert. Und das war das Einzige, was sie wollte, nur deshalb war sie in Barcelona geblieben, einer Stadt, aus der sie geflohen und in die sie nur zurückgekehrt war, um der Beerdigung eines Sohnes beizuwohnen, den sie so gut wie gar nicht kannte.
    Jetzt musste sie einfach warten, sagte sie sich, während sie in der Wohnung mit den hohen Decken, die ihrer Großmutter gehört hatte, zwischen den Möbeln auf und ab ging, alten Möbeln unter Laken, die einmal weiß gewesen waren und eine gespenstische Atmosphäre schufen. Ihre Schritte führten sie auf den Balkon, wo eine grüne, schon lädierte Außenjalousie über dem Geländer hing und eine Reihe von Blumentöpfen vor der Sonne schützte, in denen nur noch trockene Erde war. Sie trat hinaus, und in der Mittagssonne musste sie die Augen zukneifen. Der Balkon war die Grenze zwischen zwei Welten: auf der einen Seite die Calle Astúries, das Herz des Viertels Gràcia und mittlerweile eine Fußgängerzone, durch die lärmende Menschen in leuchtend bunter Kleidung zogen; auf der anderen die mit den Jahren ergraute Wohnung, deren Wände einmal elfenbeinfarben gewesen waren. Sie musste bloß die Jalousie hochziehen, das Licht hereinfluten lassen, die Lebenden mit den Toten vermengen. Aber es war nicht der Zeitpunkt. Noch nicht. Erst musste sie entscheiden, wohin sie gehörte.
    Wegen der Hitze ging sie wieder hinein und trat in die Küche. In der Wohnung der Großmutter spürte sie Frieden. Trotz ihrer fünfzig Jahre war sie tatsächlich das Einzige, was sie als ihren Besitz bezeichnen konnte. Als die Großmutter starb, hatte sie ihr die Wohnung vererbt, gegen den Willen aller, wahrscheinlich weil sie nicht mehr bei Verstand war und schon vergessen hatte, dass Joana die schlimmste Sünde begangen hatte, eine Sünde, die ihr die einhellige Verurteilung der ganzen Familie eintrug. Sie nahm die Plastikkanne aus dem Kühlschrank und schenkte sich ein Glas Wasser ein. Vielleicht hatten die anderen recht, dachte sie, als sie auf dem Resopalstuhl saß, das Glas in beiden Händen, vielleicht hatte sie etwas Grausames oder zumindest Widernatürliches an sich. »Nicht mal die Tiere verlassen ihre Jungen«, war es ihrer Mutter entfahren. »Verlass deinen Mann, wenn du willst. Aber das Kind?«
    Das Kind. Marc. Als sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte, schlief er in einer Wiege, und als sie ihn wiedersah, lag er in einem Eichensarg. Und beide Male hatte sie nichts anderes gefühlt als eine fürchterliche Angst vor der eigenen Gefühllosigkeit. Das Kind, das sie gezeugt und geboren hatte, bedeutete ihr so wenig wie der Junge mit dem stoppelkurzen Haar und dem lächerlichen schwarzen Anzug, der hinter der Scheibe in der Leichenhalle lag.
    »Du bist ja tatsächlich gekommen.« Die Stimme hatte sie gleich erkannt, aber sie brauchte ein paar Sekunden, ehe sie sich traute, den Kopf zu wenden.
    »Fèlix hat mir Bescheid gesagt«, sagte sie, fast wie zur Entschuldigung.
    Die Leichenhalle war in einer angespannten Stille versunken, aus der sich bald das Getuschel erheben sollte. Als sie hereinkam, hatte niemand sie sonderlich beachtet – eineFrau wie viele andere, mittleren Alters, in diskretem Dunkelgrau –, aber jetzt spürte sie, wie sich ihr die Blicke in den Rücken bohrten. Überraschung, Neugier, Vorwurf. Die plötzliche Hauptperson einer Beerdigung, die nicht die eigene war.
    »Enric ...« Eine weitere männliche Stimme, die von Fèlix, gab ihr die nötige Kraft, dem Mann in die Augen zu blicken, der vor ihr stand, einen Schritt zu nah.
    »Ich wollte ihn sehen«, sagte sie nur. »Ich gehe gleich wieder.«
    Enric blickte sie befremdet an, trat aber zur Seite, als wollte er sie auffordern, mit hinauszugehen. Es war der gleiche Gesichtsausdruck wie damals, als sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte, als er nach Paris kam und sie bat, wieder nach Hause zu kommen. Er hatte mehr Fältchen um die Augen, aber die Mischung aus Ungläubigkeit und Verachtung war noch dieselbe. Und auch jetzt fragte sich Joana, wie er nur so adrett aussehen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher