Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer deines Todes

Der Sommer deines Todes

Titel: Der Sommer deines Todes
Autoren: Kate Pepper
Vom Netzwerk:
Wellen schlagen gegen die Felsplatte vor dem Eingang. Bei Flut steigt in der Grotte das Wasser, und ein kleines Kind würde ins Meer geschwemmt.
    Wir zwängen uns durch eine Felsspalte, arbeiten uns Meter für Meter durch die dunkler werdenden Schatten. Auf dem Boden schimmern Wasserlachen wie Glasscherben. Hinter einem Gang, gesichert von einem einzelnen durchhängenden Seil, spiegeln sich in einem See Stalagmiten – weiße Kalzitformationen, die an eine überdimensionierte Hochzeitstorte erinnern. Die hohe Decke ist in der Dunkelheit nicht zu erkennen.
    «Ben!» Meine Stimme steigt auf, breitet sich aus, schallt zurück. «Ben, Liebling, wir sind’s, Mommy und Daddy. Bist du hier? Ben?»
    «Ben!», ruft Mac. «Sag etwas, damit wir dich hören können.»
    Die Echos überschlagen sich, bis die einzelnen Wörter nicht mehr zu verstehen sind. Ich weiß nicht mehr aus noch ein. «Ben!», wiederhole ich. Das Gefühl meiner Hilflosigkeit verstärkt sich von Minute zu Minute. «Ben, so antworte doch!» Aber falls er hier irgendwo steckt, falls er versucht, uns zu antworten, wird seine Antwort in der Kakophonie unserer Stimmen untergehen.
    Wir gehen weiter, bis wir kaum noch etwas sehen.
    «Warum haben wir denn keine Taschenlampe dabei?», frage ich frustriert.
    Mac, der genauso ratlos klingt, wie ich es bin, sagt: «Weil wir nicht daran gedacht haben?»
    «Pst», flüstert Guy, doch auch seine verhaltene Aufforderung wabert durch die Grotte. «Hören Sie mal.»
    Und ich denke: Wenn wir ihn finden und er ist tot, bin ich am Ende.
    Und falls wir ihn nicht finden, drehe ich durch.
    Und wenn wir ihn finden und er lebt, dann hat er zum zweiten Mal in seinem Leben eine Entführung durchmachen müssen, und dann lege ich einen Eid ab, dass wir – Mac und ich – in Zukunft das Schicksal nie wieder herausfordern, dass wir die Finger von Ermittlungen lassen, die unser Leben in Gefahr bringen, dass wir uns einen anderen Job suchen, etwas Sinnvolles tun, ein Geschäft eröffnen, ein Handwerk erlernen, ein Buch schreiben, dass wir irgendetwas tun, das es uns ermöglicht, für unseren Lebensunterhalt zu sorgen, ohne dass unsere Seelen Schaden nehmen, ohne dass wir und die Kinder physische Schmerzen erleiden müssen.
    In dem Moment höre ich ein leises Echo, das von ganz weit her zu kommen scheint.
    «A, B, C, die Katze lief im Schnee. Und als sie dann nach Hause kam, da hat sie weiße Stiefel an. Ojemine! Ojemine! Die Katze lief im Schnee.»
    «Ben!», schreie ich. «Wo steckst du?»
    «Mami?» Seine hohe Stimme klingt ängstlich, als hätte er Zweifel, ob wir wirklich hier sind.
    «Sing weiter, dann finden wir dich.»
    «A, B, C, die Katze lief im Schnee.» Mit jedem Schritt wird sein Echo lauter und kräftiger.
    Wir gehen weiter, stoßen auf eine Treppe, steigen die Stufen hinunter. Zuerst wird das Echo leiser, doch dann schallt Bens kleine Stimme wieder laut und deutlich von den Wänden wider. Durch irgendein Loch fällt Sonnenlicht in eine sepiafarbene Tropfsteinhöhle, in deren Mitte sich ein kleiner See befindet. Die scharfkantigen Spitzen der Stalaktiten durchbrechen die glatte Wasseroberfläche.
    «A, B, C, die Katze lief im Schnee.» Jedes Wort ist jetzt ganz deutlich zu verstehen, und wir sind inzwischen offenbar so nah, dass sich seine Stimme echt anhört und nicht wie eine Sinnestäuschung.
    «Ben!», versuche ich es wieder.
    «Mami», sagt mein kleiner Junge. «Ich bin hier.»
    «O mein Gott», murmelt Mac hinter mir. Ich höre noch Guys gleichmäßige Atemzüge, dann erstarre ich.
    Auf der anderen Seite des Wasserbeckens sitzt Ben auf einem Felsvorsprung, in diesem Durcheinander aus Licht und Schatten kaum zu erkennen. Da harrt er aus, mein kleiner Liebling, als säße er im Kindergarten auf dem Boden und warte darauf, dass man ihm sagt, was er jetzt tun soll. Ganz verloren wirkt er auf diesem Stein. Keine Decke. Nichts zu trinken, sondern nur das Meerwasser, das gegen den Felsvorsprung schwappt. Der Mistkerl hat ihn hier gelassen, damit er ertrinkt, verhungert oder vor Einsamkeit und Angst elend krepiert.
    «Ben», sage ich mit einer Mischung aus Freude und Furcht. «Ich sehe dich.»
    «Mami», erwidert er nachdenklich, «du klingst so anders.»
    «Kein Sorge, ich bin es wirklich», beruhige ich ihn und versuche, nicht weinerlich zu klingen. «Halte durch, Schätzchen, wir kommen zu dir und holen dich.»
    «Komm schnell!» Seine durch die Höhle hallende Bitte macht mir Mut, und ich bin nur noch erleichtert.
    «Ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher