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Der Sommer auf Usedom

Der Sommer auf Usedom

Titel: Der Sommer auf Usedom
Autoren: Lena Johannson
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besten begnügte sie sich für den Anfang mit einer kleinen Runde. Jeden Tag konnte sie ein Stückchen weiter laufen, wenn sie erst eine brauchbare Karte der Gegend in ihrem Kopf gespeichert hatte. Kraftvoll schlug sie die Spitzen der Stöcke abwechselnd in den weichen Waldboden und lief mit großen Schritten voran. Plötzlich hörte sie ein Piepen irgendwo links des Weges, als hätte jemand sein Mobiltelefon eingeschaltet. Sie blickte zwischen Bäumen und Sträuchern hindurch. Blätter, die im vergangenen Herbst hinabgesegelt waren, lagen noch immer braun und vertrocknet wie Pergament herum und knisterten unter jedem ihrer Schritte. Da, wieder dieses Geräusch wie von einem Handy. Und dann gleich noch mal. Es klang doch eher nach einem Quietschen als einem Piepen. Wahrscheinlich nur ein Zweig, der sich vom Wind bewegt an einem Stamm rieb, sagte sie sich. Sie musste über sich selber schmunzeln. Schon immer hatte sie ein eher ängstliches Naturell gehabt. Doch hier in dieser idyllischen Gegend mitten im Naturpark waren nur Hundehalter oder harmlose Wanderer unterwegs. Es gab nun wirklich keinen Grund, eine Gänsehaut zu bekommen. Aber was war das? Ein kräftiges Schnauben, ganz eindeutig und nicht weit von ihr entfernt im Dickicht. Nicht wie von einem Stier, was sie auch nicht gerade beruhigt hätte, sondern ziemlich menschlich und an einen fiesen Schnupfen erinnernd. Sie hatte noch nie davon gehört, dass sich Rehe oder Wildschweine die Nase putzten. Instinktiv beschleunigte sie ihren Schritt. Jetzt wurde ihr doch mulmig, und das Schmunzeln verging ihr. Hatte es da nicht eben hinter ihr geknistert? Sie drehte sich um, doch da war nichts außer Bäumen und Sonnenstrahlen, die es hier und da zwischen den Ästen mit ihrem dichten Laub bis hinunter auf den Boden schafften. Wie gehetzt eilte sie durch den Wald über Wurzeln und Grasbüschel hinweg. Ihr fielen zwei kleine abgebrochene Zweige auf, die über Kreuz mitten auf dem Weg lagen. Ein geheimes Zeichen? Wieder blickte sie sich um. Sie spürte, wie sich die kleinen Härchen an ihrem Nacken aufrichteten. Warnicht eben jemand zwischen den Bäumen verschwunden, als sie sich umgesehen hatte? Die Luft wurde ihr knapp, es begann in ihren Ohren zu rauschen. Hättest du dein Konditionstraining nur wichtiger genommen als Kino, Shoppen oder Treffen mit Bekannten, beschimpfte sie sich in Gedanken. Dann würde sie jetzt leichtfüßig dem Bösewicht entkommen, der hier ganz offensichtlich im Wald lauerte.
    Schweißgebadet erreichte sie endlich das Haus ihrer Freundin. Die sah von ihrer Arbeit auf, als Jasmin keuchend die Loggia betrat, einen ehemaligen Freisitz, den der Vorbesitzer des Hauses mit Glas hatte schließen und zu einem voll nutzbaren Wohnraum umbauen lassen. Darin stand Gabis riesiger Zeichentisch, denn noch immer arbeitete die Architektin gern mit Papier und Bleistift. Der Teekessel pfiff, und die Uhr in der Diele stimmte mit ihrem tiefen Gong in das bescheidene Hauskonzert ein.
    »Wie siehst du denn aus? Kann es sein, dass du es gleich bei deinem ersten Lauf ziemlich übertrieben hast?«
    »Es war schrecklich!«, brachte Jasmin zwischen flachen, schnellen Atemzügen hervor. »Was du auf meiner Stirn siehst, ist der pure Angstschweiß.«
    »Wie bitte? Ist etwa jemand hinter dir her gewesen?« Gabi sah sie über die Ränder ihrer halbrunden Brillengläser an und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
    »Genauso war es. Glaube ich zumindest. Auf jeden Fall hat sich im Wald jemand herumgetrieben.«
    »Das tun viele Menschen bei so schönem Wetter.« Gabi seufzte. »Sie gehen mit ihrem Hund spazieren oder treiben Sport, so wie du.«
    »Nein, Gabi, der Kerl ist nicht spazieren gegangen. Der hat sich versteckt. Er hat gut aufgepasst, dass ich ihn nicht zu Gesicht kriege.« Sie wischte sich den Schweiß von der Oberlippe und musste an den Mann im Niemeyer-Holstein-Museum denken, der hereingestolpert war.
    »Du hast ihn also nicht gesehen?«
    »Nein, sag ich doch.«
    »Und wieso weißt du, dass es ein Kerl war?« Gabi runzelte die Stirn.
    »Eine Frau drückt sich doch wohl kaum im Unterholz herum«, gab sie aufgebracht zurück. »Ich kann dir sagen, ich bin um mein Leben gerannt.«
    »Mit den Stöcken?«
    »Die habe ich unter die Arme geklemmt.«
    Jetzt musste Gabi lachen. Sie legte ihre Brille auf die Pläne, an denen sie gerade gearbeitet hatte. »Das hätte ich gerne gesehen!« Die Vorstellung schien sie sehr zu amüsieren. »Ich gieße uns mal einen Tee auf. Ich habe
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