Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer auf Usedom

Der Sommer auf Usedom

Titel: Der Sommer auf Usedom
Autoren: Lena Johannson
Vom Netzwerk:
Steuerkanzlei. Und sie hatte jeden Tag Appetit auf Kuchen oder Torte. Sie schob den Gedanken beiseite. Jetzt war Urlaub, jetzt durfte sie ganz sie selbst sein. Verstohlen beobachtete sie den Mann, der als letzter Teilnehmer dieser Führung in den Wintergarten gestolpert war. Er sah gar nicht übel aus. Lachfältchen um den Mund und die braunen Augen, kurzes mittelbraunes Haar, das er mit etwas Gel aus der Stirn himmelwärts gezwungen hatte. Gerade so viel, um jung und frech auszusehen und noch nicht albern. Er trug eine ausgeblichene Jeans und ein T-Shirt und mochte etwa in ihrem Alter sein, also Anfang dreißig. Es war nicht zu übersehen, dass er Sport nichtnur im Fernsehen sah. Jasmin hörte Schneewittchen längst nicht mehr zu, sondern ärgerte sich darüber, dass sie Monat für Monat eine nicht unerhebliche Summe für ein Fitnessstudio ausgab, das sie zuletzt vor ungefähr neun Wochen von innen gesehen hatte. So würde sie nie die überflüssigen Pfunde loswerden, die aus ihr eine gedrungene kleine Kugel machten. Jedenfalls sah sie sich so. Gabi explodierte regelmäßig, wenn sie auf dieses Thema zu sprechen kamen.
    »Du bist vielleicht einen Tick zu klein für dein Gewicht«, pflegte sie zu sagen. »Aber du bist ganz bestimmt nicht fett!«
    Der Spätankömmling drückte sich ständig hinter der Gruppe herum. Wie in der Schule, wo immer alle in der letzten Reihe sitzen wollten. Auch jetzt wieder. Er stand eingezwängt zwischen einem Kaminofen und einem Möbel aus dunklem Holz in der Döns, dem Herzen des merkwürdigen Bauwerks. Hinter ihm an der mit Delfter Kacheln verkleideten Wand hatte Jasmin eben noch eine kleine Pendeluhr gesehen. Sie konnte nicht aufhören, zu ihm hinüberzustarren, weil sie befürchtete, im nächsten Moment würde er die Uhr mit dem Rücken vom Nagel drücken, und ihr letztes Stündchen hätte geschlagen.
    »Und nun zum krönenden Abschluss gehen wir hinüber in das Atelier«, verkündete Schneewittchen mit Begeisterung. »Niemeyer-Holstein hat es ›Tabu‹ genannt, was nicht bedeutet, dass er dort niemanden empfangen wollte. Ganz und gar nicht.« Sie zählte seine Malerfreunde auf, die durchaus alle Zutritt hatten. »Für ihn war das Erschaffen von Bildern seine Arbeit, die er überaus ernst nahm. Mehr Inhalt, weniger Kunst, wie Shakespeare die Königin in Hamlet sagen lässt.« Schneewittchen lächelte zufrieden, hatte sie doch einmal mehr ihr Wissen außerhalb der Malerei bewiesen. Jasmin mochte das Zitat, fragte sich allerdings, ob es an dieser Stelle passte.
    Doch schon sprach Schneewittchen weiter: »Und er argumentierte, dass er es einfach nicht ausstehen könne, wenn seine Ehefrau, die er Stüermann nannte, ihn wegen einer Nichtigkeit in seiner Konzentration unterbrach. Er pflegte zu sagen, dass auchniemand auf die Idee käme, die Tür zu einem Operationssaal einfach aufzureißen, um den Chirurgen zu fragen, was er am Abend gerne essen würde.« Sie zwinkerte und ging voraus in Richtung des Ateliers mit dem abweisenden Namen. Wie recht dieser Mann gehabt hatte, ging es Jasmin durch den Kopf. Ein letztes Mal sah sie sich in der Döns um, in der der Künstler so manchen gemütlichen Abend mit Stüermann und zahlreiche Begegnungen mit anderen Künstlern erlebt hatte. Dabei fiel ihr auf, dass der Spätankömmling wiederum wartete, um zum Schluss den Raum verlassen zu können. Ein sonderbarer Mensch.
    Im Atelier angekommen, nahm Jasmin einen tiefen Atemzug, als könne sie dadurch die Atmosphäre und den Anblick aufsaugen, der sich ihr und den anderen bot. Überall Gemälde in dicken alten Rahmen, große und kleine. Was noch viel schöner war: Staffelei, Farbpalette, verbeulte Dosen mit gebrauchten Pinseln darin, ein Kaffeebecher, ja selbst Pantoffeln neben einem Stuhl erweckten tatsächlich den Eindruck, dass »der Alte« jeden Augenblick an seine Arbeit zurückkehren würde. Wunderbar! Jasmins Augen glitten über jedes winzige Detail. Da riss ein Poltern sie aus der geradezu magischen Stimmung. Der Spätankömmling war über einen Läufer gestolpert, hatte beinahe einen Vorhang mitgerissen, der neben der schmalen Eingangstür hing und ein Regal verdeckte, und ruderte nun hilflos mit den Armen, um nicht der Länge nach hinzuschlagen. Wenn es an diesem Ort nicht so gänzlich unpassend gewesen wäre, hätte Jasmin die Anwesenden gern gebeten, ihren Tipp abzugeben, ob dieser ungeschickte Kerl, der seine Füße anscheinend nicht unter Kontrolle hatte, auf selbigen bleiben oder
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher