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Der Sommer auf Usedom

Der Sommer auf Usedom

Titel: Der Sommer auf Usedom
Autoren: Lena Johannson
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ihr realistischer. Oder sogar sechshundert? Ausgerechnet heute brannte die Sonne schon am Vormittag mit ganzer Kraft. Jasmin erreichte den Aussichtspunkt, stellte ihre Staffelei in den Sand und stützte sich mit den Unterarmen darauf, als lehnte sie am Sonntagmorgen im Fensterrahmen ihrer Küche, um mit derNachbarin, die ihren Hund ausführte, ein paar Worte zu wechseln. Der Ausblick war traumhaft. Nicht zu vergleichen mit dem aus ihrer Küche auf den Berliner Bürgersteig. Wenn sie das Blau der Ostsee, den hellen Cremeton des Strandes und das Grün der dicht wachsenden Kiefern und Sanddornbüsche so auf Papier bringen würde, müsste man das fertige Bild zwangsläufig für unnatürlich bunt halten. Nur waren die Farben eben genau so, kräftig und leuchtend. Zusätzliche Akzente kamen durch blaue und rote, grüne und gelbe Strandmuscheln und Sonnenschirme ins Spiel.
    Ein gutes Stück weiter machte Jasmin mehrere Reihen hellblauer Strandkörbe aus. Sie schob ihre Sonnenbrille ein Stückchen herunter, um über den Rand hinweg prüfen zu können, ob die Farbenpracht echt oder ihr doch nur von den rötlich getönten Gläsern vorgegaukelt worden war. Im gleißenden Licht der Sonne leuchtete sie sogar noch intensiver. Jasmin schob die Brille wieder hoch und stand noch eine Weile da, das Bild still in sich aufsaugend. Dann suchte sie einen Platz, der nicht von Urlauberscharen bevölkert wurde. Nun gut, hier oben waren an diesem sehr warmen Tag nicht viele Menschen unterwegs. Die meisten tummelten sich unten am Saum der Ostsee. Trotzdem hielt Jasmin nach einem besonders verschwiegenen Plätzchen Ausschau.
    Sie fand es, den Zugang verborgen zwischen Hecken und niedrigem Gesträuch. Der Sand hier oben war fein und hell wie unten am Strand. Ein fröhlicher Wind wehte und trug immer wieder einige Körnchen fort von dem Hügel zum Meer hinab. Jasmin überlegte kurz, ob sie versuchen sollte, die Böen für sich arbeiten zu lassen, indem sie ihre Staffelei so aufstellte, dass der Wind den Sand auf die frische Farbe wehen und auf diese Weise nicht gekannte Effekte auf ihr Bild zaubern konnte. Doch sie verwarf den Gedanken wieder. Sie nahm ihre Flasche Wasser aus ihrem Rucksack und trank einen kräftigen Schluck. Dann sah sie sich voller Tatendrang um. Ein Platz für das hölzerne Gestell, das ihren bespannten Keilrahmen tragen würde, war schnell gefunden.Der Boden war weich. Sie überprüfte den festen Stand der Staffelei und war zufrieden. Solange kein allzu kräftiges Lüftchen wehte, würde schon nichts passieren. Ihren Rucksack lehnte sie ein Stück weiter an einen Baumstumpf. Sie holte die auf Holz gezogene Leinwand und einen weichen Bleistift hervor. Das Motiv war ideal, fand sie. Die Wurzel eines Baumes, den man vor Jahren abgesägt hatte, stand wie ein hochbeiniges Insekt vor ihr, dahinter das Meer mit einem knallblauen Himmel darüber. Durch das Fortwehen des Sandes war die Wurzel Stück für Stück freigelegt worden. Selbst kleine Verzweigungen, die einmal tief in der Erde gesteckt und die gewiss mächtige Pflanze mit Nährstoffen und Feuchtigkeit versorgt hatten, hingen nun frei in der Luft. Irgendwann einmal würde dieses knorrige Überbleibsel eines Baumes den Halt verlieren, zur Seite kippen, womöglich das Kliff hinunterstürzen. Jasmin würde das Bild Eingang zur Räuberhöhle nennen oder Schatzkarte . Sie brachte sich in Position, setzte die graue Mine auf die weiße Leinwand. Der Anfang war immer das Schwerste, fand sie. Ihre Augen wanderten im schnellen Wechsel von der Wurzel mit ihrer farbigen Welt um sich herum zu der leeren Fläche und wieder zurück. Gerade als sie zum ersten Schwung ansetzte, hörte sie ein lautes Rascheln und Knacken. Sie erschrak so sehr, dass ihre Hand ausrutschte und einen hässlichen dunklen Strich diagonal über die Leinwand zog.
    Im nächsten Augenblick kam ein Mann aus dem Gesträuch, stolperte über den Baumstumpf, fing sich wieder, blieb aber mit dem Fuß an ihrem Rucksack hängen. Der fiel zur Seite, während der Unglücksrabe mit einem geschmeidigen Sprung gerade noch verhindern konnte, gegen ihre Staffelei zu stoßen. Dummerweise hatte er einen ziemlich kraftvollen Satz gemacht, der ihn direkt bis kurz vor die Steilkante des Kliffs befördert hatte, an der es hundertsechzig – oder waren es doch sechshundert? – Meter in die Tiefe ging. Der Wucht seiner Bewegung hatte der weiche Sand nichts entgegenzusetzen, so dass der Mann geradewegs auf den Abgrund zuschlitterte. Er ruderte
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