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Der Sommer auf Usedom

Der Sommer auf Usedom

Titel: Der Sommer auf Usedom
Autoren: Lena Johannson
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tatsächlich stürzen würde. Entsetzt beobachtete sie, wie er gegen ein an der Wand hängendes Bord taumelte, das sich kurz vor und wieder zurück bewegte, woraufhin eine Miniatur, die darin gestanden hatte, ins Wanken geriet. Aus dem Augenwinkel erkannte er die Gefahr, riss seinen Oberkörper herum und fing das kleine Gemälde auf, bevor es zu Boden gehen konnte. Er bezahlte seine, für Jasmin völlig überraschende, Aufmerksamkeit und Reaktionsschnelligkeitmit einem Stoß seines Knies gegen die Kante eines Sessels, der ziemlich schmerzhaft gewesen sein dürfte.
    »Entschuldigung«, stammelte er und stellte die Miniatur zurück an ihren Platz.
    »Guckt der denn nicht, wohin er tritt?«, fragte eine kleine dralle Frau mit grauem streichholzkurzem Haar und einer runden Brille auf der Nase und schüttelte missbilligend den Kopf.
    Jasmin musste schmunzeln. Natürlich musste sie der Grauhaarigen recht geben, aber irgendwie hatte der Tollpatsch etwas Sympathisches an sich. Außerdem war doch nichts passiert, und man musste zugeben, dass es bei ONH ziemlich eng war.
    Drei Stunden später saß Jasmin vor einem Stück Apfelstrudel mit Vanille-Eis im Forsthaus und zeichnete mit dem Bleistift eine Skizze in ihr eigens dafür angelegtes Buch. Am Abend würde Gabi kochen, sie würden Wein trinken und vermutlich ein Dessert verspeisen oder zu später Stunde Käse und Oliven knabbern. Eigentlich hatte sie sich deshalb vorgenommen, tagsüber nichts zu essen. Andererseits bewegte sie sich hier auf der Insel viel mehr als in ihrer Steuerkanzlei, und schließlich hatte sie doch Urlaub. Wer mochte sich da schon kasteien? Wenn sie wieder zu Hause war, würde sie regelmäßig ins Fitnessstudio gehen, das nahm sie sich ganz fest vor und schob sich sehr zufrieden ein Stück Strudel mit Eis in den Mund.
    Gabi wohnte in der sogenannten Usedomer Schweiz, dem Achterland am Südufer des Schmollensees. Hier gab es eine Holländerwindmühle, eine Kirche aus dem 13. Jahrhundert, sanfte Hügel und viel Wald. Ideal, um durch die Landschaft zu laufen. Nachdem Jasmin am Vorabend von ihrem ersten Ausflug zurückgekehrt war, hatte ihre Freundin Steak in Gorgonzolasoße aufgetischt, dazu Kroketten. Zum Nachtisch hatte es erst einen Eisbecher mit Eierlikör und später Käse gegeben. Es war also noch schlimmer gekommen, als Jasmin geahnt hatte.
    »Bitte, Gabi, es war köstlich, aber du darfst mich auf keinenFall zwei Wochen lang so mästen. Ich habe jetzt schon zu viel auf den Rippen, und ich bin nicht scharf darauf, dass noch drei oder vier Kilo dazukommen.«
    »Also ehrlich«, hatte Gabi protestiert, »du hast wirklich Wahrnehmungsstörungen. Okay, vielleicht bist du für dein Gewicht etwas zu …«
    »Klein«, fiel Jasmin ihr ins Wort. »Ich weiß. Dummerweise wachse ich auch nicht mehr.«
    »Dann musst du eben an der anderen Stellschraube drehen, wenn du unbedingt etwas ändern möchtest, was du nicht wirklich müsstest, wenn du meine Meinung hören willst.«
    »Will ich nicht.« Sie zog eine Grimasse.
    »Dachte ich mir«, antwortete Gabi unbeeindruckt. »Geh joggen oder schwimmen oder fahr Rad! Mach, was du willst, nur geh mir bloß nicht mit deinen dauernden eingebildeten Figurproblemen auf die Nerven und werde vor allem nicht eine dieser unleidlichen Tanten, die mit verkniffenem Gesicht ein Salatblatt mümmeln und permanent schlechte Laune verbreiten.«
    Jasmin hatte sich mehr schlecht als recht verteidigt und dann beschlossen, dass der Urlaub tatsächlich eine gute Gelegenheit war, sich mal wieder sportlich zu betätigen. Es gab Wander- und Fahrradwege, auf denen sie schon am Morgen eine Runde drehen konnte. Und genau das tat sie am zweiten Tag ihres Aufenthalts auf Usedom gleich nach dem Aufstehen.
    Es würde ein warmer Tag werden, aber noch war es nicht zu heiß. Sie hatte sich von Gabi Stöcke geliehen, die für sie ein wenig zu lang waren, aber besser als nichts. Nordic Walking war für Untrainierte nun einmal erheblich günstiger als die Gelenke mit Jogging zu malträtieren. Man sah zugegebenermaßen ein wenig eigentümlich aus, aber sie war schließlich nicht auf dem Laufsteg, sondern auf einem Wanderweg, der sie jetzt in einen dichten Wald mit Erlen, Birken und Eichen führte. Sie hätte nicht erwartet, dass das üppige Laub so viel Sonnenlicht schluckte. Richtig düster wirkte der Pfad. Jasmin wurde sich mit einem Mal bewusst, dass sie ganz allein in einem Gebietunterwegs war, in dem sie sich nicht gerade besonders gut auskannte. Am
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