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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition)
Autoren: Jessica Durlacher
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nur das leichte Summen der Kaffeemaschine draußen auf dem Flur und wie jemand im Vorbeigehen etwas über IKEA sagte.
    10
     
    Warum war er überhaupt gestürzt? Er war doch immer so vorsichtig gewesen, peinlichst vorsichtig.
    »Mutti!«
    Nach ihr hatte er gerufen. Nach seiner längst verstorbenen Mutter – das konnte fast nicht anders sein. Mein alter Vater, der wieder zum Sohn geworden war, wo war er jetzt?
    Komm zurück, mach die Augen auf, komm zurück. Hilf mir mit deiner Stimme. Deiner Vaterstimme. Dann bin ich wieder deine Tochter. Wenn du redest, ist alles wieder gut. Sag mir, dass ich Talent habe, dass ich etwas Besonderes bin, dass ich noch jung bin, dass mich noch so viel erwartet. Sag mir, woher ich komme, wem ich ähnele. Sag mir, dass ich deiner Mutter ähnele, dass ich ihre Augen habe, ihre Stirn, sag mir mehr, sag mir, dass ich dich an dich selbst erinnere, sag mir zur Not, was du von mir hältst. Aber sag etwas.
    11
     
    Der Nieselregen hatte aufgehört. Je weiter ich mich von der Stadt entfernte, desto trockener wurde es und desto kälter die Luft. Wind kam auf. Ich erschrak, als ein Pferd an mir vorbeitrabte. Ein doofes großes Pferd – das lebte und im Licht vor sich hintrabte. Wie ich. So war die übriggebliebene Welt: doofe trabende Pferde, ein Park, in den mein Vater nie mehr zurückkehren würde, eine Landschaft wie von Caspar David Friedrich.
    Es war kaum ein halbes Jahr her, dass er Tess von Doktor Faustus erzählt hatte. Vermeintlich locker, scherzhaft. Er hatte das Buch seit mindestens vierzig, wenn nicht sogar fünfzig Jahren nicht mehr gelesen.
    »Aber du gibst immer gut auf dich acht, meine liebe Tess, ja? Bewahrst deine liebe Seele in einer guten, stabilen Tasche auf, so einer, die schön nach Leder riecht und die du mit einem Messingschloss verschließen kannst, ja? Tess, hörst du? Nie dich selbst verleugnen, ja! Nicht Model werden wollen oder etwas anderes Dummes, Innenarchitektin oder dergleichen, ja, Tess?«
    »Mensch, Opa, neee…« Tess war gerade dreizehn geworden.
    Als ich sechs wurde und in die Grundschule kam, hatte er ein Ledermäppchen für mich gekauft. Ich habe es heute noch. Ein Mäppchen aus rotem Leder, das man mit einem kleinen Messingschloss verriegelt. Er hatte die ganze Stadt danach abgeklappert, wie mir meine Mutter damals erzählte. Es sollte nämlich genauso ein Mäppchen sein wie das, das er selbst früher gehabt hatte. Und die Stifte, der Radiergummi und der Füller darin waren von der allerbesten Qualität.
    12
     
    Mitch war nur für eine Woche aus Berkeley gekommen, als es meinem Vater so schlechtging. Länger war nicht möglich gewesen, weil er Prüfungen hatte. Er fehlte mir schrecklich. Neunzehn war er inzwischen und genau mein Vater, wie ich von den wenigen Jugendfotos wusste, die Iezebel noch von ihm hatte. Dichtes dunkles Haar – bei meinem Vater inzwischen weiß geworden – mit natürlich fallendem Seitenscheitel, breites Gesicht, buschige Brauen, fast schwarze Augen. Beide meistens gut aufgelegt, aber zu unerwarteten Wutausbrüchen neigend. Guter Dinge, wo andere erwartet hätten, dass sie fluchen würden (wenn sie früh aus dem Bett mussten, wenn ein Schaden zu reparieren war, wenn eine Packung Tomatensoße runterklatschte). Dann feixten sie, ließen sich die Laune nicht verderben, taten, was zu tun war.
    Wie mein Vater konnte Mitch in aller Seelenruhe einen ganzen Kuchen oder ein ganzes Hähnchen verspeisen. Konnte sich völlig abkapseln und den ganzen Tag stumm und missmutig vor Fernseher oder Computer hocken, um dann abends plötzlich wieder munter irgendeine komische Geschichte zu erzählen. Mitch war genauso hypersensibel und genauso sentimental wie mein Vater, weil er die gleiche Angst hatte, dass einem von uns etwas passieren könnte.
    Aber mein Vater war intellektueller. Während Mitch für sein Leben gern Spiele spielte, war mein Vater ein Büchernarr und durchforstete das Internet, um sich Wissen anzueignen. Mitch war auf Sensationen aus (ich kam irgendwann nicht mehr mit, welche das gerade waren) und hatte Zukunftsträume, die für mein Empfinden wenig Konsistenz hatten. Er wollte eigentlich eine Weltreise machen, ging aber nach Berkeley, um Fußball zu spielen und zu lernen, wie man Drehbücher schreibt. Manchmal redete er plötzlich von der »großen Fahrt« oder dem Militär, dann wieder träumte er davon, auf eine Business School zu gehen (was immer er sich darunter vorstellte) und »stinkreich« zu werden, und es gab auch
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