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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition)
Autoren: Jessica Durlacher
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durch diesen Park gegangen war, mit seiner Mutter und seinem Hund, ein Spaziergang, der bestimmt in eine Konditorei geführt hatte und zu einem festlichen Stück Torte. Diese Stadt hatte so großen Einfluss auf das Leben meines Vaters gehabt. Wie schön wäre es, wenn ich die Zeit aus ihr herausschöpfen, das ganze Elend herausbaggern und irgendwo abladen könnte, wo es keinen Schaden anrichtete! Und wenn seine Eltern, meine Großeltern, gerade erst auf die Welt kämen! Dass die Landschaft hier so lieblich war, erboste mich geradezu. Die grün gesäumten Wege, die sich am Fluss entlangschlängelten, Baden-Baden selbst mit seinen auf und ab führenden Gassen, den wunderschönen, imposanten Gebäuden, dem Casino, der Trinkhalle und den klassizistischen Hotels: All das kam mir irgendwie vertraut vor, obwohl ich nur ein einziges Mal hier gewesen war, und das als Vierjährige. Von hier aus wirkte die Geburtsstadt meines Vaters stolz und schön. Aber sie hatte meinen Vater und seine Familie nicht vor den aggressiven Kräften beschützt, die in ihr erwacht waren. Ich wusste, dass die Täter tot waren und die Strafen verhängt, dass die, die an der Macht waren, gewechselt hatten und dass tiefe Reue und Scham vorhanden waren, aber die prunkvollen Gebäude, die reizenden Gassen waren noch genauso schön und unzerstört wie damals.
    Man kann eine Stadt nicht für schuldig erklären, schon gar nicht, wenn ihre Bewohner nicht mehr die von damals sind, doch ich fand trotzdem, dass auch die Stadt eine Persönlichkeit hat, über die man nicht einfach hinwegsehen kann.
    9
     
    Nachdem mein Vater gestürzt war, hatte ich wochenlang nicht joggen wollen. Und als er dann starb, schon gar nicht. Sport, laute Musik, Gewalt im Fernsehen, all das war nicht erlaubt. Bewegung, die mit Schweiß, Ächzen, Keuchen, Schnaufen und anschließender Ermüdung verbunden war, galt als unerhört animalisch, kaum anders als Blutdurst und Willkür. Sport zu treiben, war eine Beleidigung der Sanftheit meines Vaters, widersprach allem, was er war – so etwas musste es gewesen sein. Als Kind war Sport für mich nie in Frage gekommen, Sport erinnerte zu sehr an Faschismus, Nazideutschland, Riefenstahl-Stadien, blonde Herrenmenschen.
    Und später hatte ich immer, wenn ich joggte oder mich in einem Fitnessstudio anstrengte, ja sogar beim Schwimmen, innerlich meinen Vater missbilligend mit der Zunge schnalzen hören und vor mir gesehen, wie er seine jiddische Handbewegung zum »oj oj woss far a gojisch nachess!« machte, aus dem tiefste Ablehnung und Entgeisterung sprachen.
    Erst sein großer Enkelsohn Mitch, dessen Physis und Ego durch viel Fußball und Hockey sichtlich gestärkt wurden, hatte meinen Vater ein bisschen von seinen alten Denkschablonen kuriert.
    In jenen Wochen, da mein Vater im Krankenhaus lag, saß ich jeden Tag an seinem Bett. Das Joggen verbot ich mir. Zunächst aus Solidarität (und Aberglauben, denn ich hoffte, dass er dann schneller genesen würde), und als er starb, stellvertretend für das Schiwa-Sitzen, die siebentägige traditionelle jüdische Trauerzeit, für die sich anscheinend keiner aus meiner heidnischen Familie erwärmen konnte.
    Doch er ließ mich zurück, in diesem versifften Krankenhaus, in diesem sogenannt effizienten anonymen Chaos. Oder besser gesagt: Er zwang mich, ihn gehen zu lassen. Sein Röcheln, zuvor noch durch die Sauerstoffapparate verstärkt, verstummte plötzlich – als wäre dieses Geräusch nie da gewesen. Es ist vorbei, flüsterte die dämliche Krankenschwester auch noch, während sie mit professioneller Zärtlichkeit die Hand meines Vaters streichelte.
    Finger weg von der Hand meines Vaters, du blöde Tucke!
    Aber ich sagte nichts. Tat nichts. Sah nur zu, wie dieses Weib ihn von den Maschinen abkoppelte. Dann nahm ich meine Mutter fest in die Arme. Die starrte noch auf meinen Vater, ohne zu begreifen. Als ich sagte, dass es geschehen sei, dass ihr Herman tot sei, weinte sie untröstlich. Als hätte sie auf ein Codewort gewartet – die Freigabe der Tränen. Unermessliche Trauer um alles, was jetzt verloren war. Die Ordnung. Das Fest des Lebens. Tara blickte nur vor sich hin.
    Als die Krankenschwester weg war, legten wir alle drei die Hand auf seine Hand. Als könnten wir ihn schnell zurückholen, wenn niemand guckte.
    Diese ungeheure Stille, diese blöde, banale, leblose Scheißstille – bis auf unser Schluchzen. Früher war es immer gleich gemütlich gewesen, wenn mein Vater im Raum war. Jetzt hörten wir
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