Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition)
Autoren: Jessica Durlacher
Vom Netzwerk:
womöglich bedanken, das können die sich abschminken. Diese verdammten Moffen!«
    Sie machte uns Vorwürfe. »Ihr wollt tatsächlich einen auf Friede, Freude, Eierkuchen machen, was? Wir haben nie richtig über Papa geredet. Wie er war, wie er sich aufführte… Damit sollten wir uns vielleicht auch mal beschäftigen – ich lebe schließlich noch, wisst ihr, ich bin hier. Ich bin noch nicht tot.«
    Die letzten Worte kamen stoßweise heraus, sie weinte.
    Ich versuchte, ruhig weiterzuatmen.
    »Mein Gott, Tara, es hat doch auch keiner behauptet, dass du tot bist.«
    »Haha!«, schrie sie. »Sehr witzig!«
    Brüsk stand sie auf und stieß dabei mit dem Knie gegen den Tisch, so dass eine Flasche Wasser ins Wanken geriet. Fluchtartig rannte sie aus dem Wagen.
    Wir hatten uns halb erhoben, setzten uns aber wieder.
    Iezebel sah ganz fertig aus. Sie umklammerte mit beiden Händen ihre Tasche und zitterte leicht.
    »Ach nein, das musste doch jetzt nicht sein«, sagte sie.
    »Glaub mir, Mam, das geht schon wieder vorbei«, hatte ich daraufhin gemurmelt.
    Aber das war zu optimistisch gewesen.
    Tara setzte sich aufs Bett und schloss die Augen. Ich zog meine Laufschuhe aus der Tasche. Bitte keine Probleme! Tochter zu sein, war manchmal leichter, als Schwester zu sein. Streitereien mit Tara machten mich kleinlich und armselig. Meine ganze Weisheit und die jahrelange Erfahrung, die ich dem Leben abgerungen hatte, schienen sich in der Konfrontation mit meiner Schwester manchmal zu verflüchtigen, so dass man meinen konnte, dass das, was aus mir geworden war, nur in meiner Einbildung bestand und ich in Wirklichkeit immer noch ein unselbständiges Kind war. Von meinem Vater dagegen hatte ich mich immer gewürdigt gefühlt, so schwierig und uneinsichtig er auch sein konnte. Nie war es ihm darum gegangen herauszukehren, was an Verlogenem in mir steckte, wie Tara es in unserem endlosen Geschwisterstreit tat. Und meine Mutter war nie sehr überzeugend in der Rolle des Königs Salomon. Wessen Stimme gab den Ausschlag: meine oder Taras? Wo sollte Herman beigesetzt werden, in Westerveld oder Muiderberg? Wenn meine Stimme gewann, schmollte Tara. Wenn Taras Stimme gewann, konnte ich vor Wut nächtelang nicht schlafen. Die Entscheidung war übrigens auf Westerveld gefallen, und ich triumphierte – was mich selbst anwiderte. Tara machte mich schlechter, niedriger.
    Wenn Iezebel Tara recht gab, beging sie in meinen Augen Verrat an dem, was ich die Vernunft nannte. Und das empfand ich als Verrat an Herman, dem Muster an Vernunft. Doch ich musste jetzt ohne Hermans Vernunft auskommen und fühlte mich verwaist. Früher hatte ich mich immer in seiner Hut wähnen können, wenn ich mit meiner Schwester und meiner Mutter sprach, da hatte ich gewissermaßen in seinem Namen gesprochen – und dementsprechend wurde meine Stimme auch in Familienangelegenheiten akzeptiert. Jetzt, da mein Vater tot war, waren wir drei einzelne Frauen, und das Gleichgewicht war zerstört. Ich – immerhin Mutter eines neunzehnjährigen Sohnes und einer dreizehnjährigen Tochter – vermisste meinen Vater wie ein Kind, das plötzlich ohne Anleitung zurechtkommen muss. Und wir drei, meine Mutter, Tara und ich, hatten niemanden mehr, dessen allzu rigiden Standpunkt wir attackieren und an dessen strengen moralischen Grundsätzen wir rütteln konnten. Mit dem Wegfall dieser Widerstände gerieten wir in den freien Fall. Logisch, dass wir jetzt gegeneinander opponierten. Unser Mittelpunkt, unsere Richtschnur war weg.
    8
     
    Ich ging joggen. Es regnete leicht. Hauchfeine Tröpfchen, die mit bloßem Auge nicht zu sehen waren, aber die Lichtentaler Allee umso grüner machten und das Gesicht mit einem Wasserfilm benetzten. Zumal wenn man schnell lief. Und ich lief schnell, obwohl ich ganz gegen meine Gewohnheit schon längere Zeit nicht mehr gejoggt war.
    Nach fünfhundert Metern glänzte ich vor Nässe und war völlig außer Atem. Meine Lunge schrie. Wie früher, wenn ich den ganzen Abend neurotisch geraucht hatte und dann rennen musste, um die letzte Straßenbahn zu kriegen.
    Irre, dass mein Vater sich früher auch durch diese Allee bewegt hatte. Vor der großen Katastrophe, die über ihn und seine Familie hereinbrach, damals, als die Welt noch die Chance hatte, dieses Geschehen zu verhindern. Jetzt, fast fünfundsiebzig Jahre später, konnte man meinen, diese Katastrophe hätte nie stattgefunden. Wen kümmerte noch der Krieg der früheren Generationen?
    Ich stellte mir vor, wie er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher