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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition)
Autoren: Jessica Durlacher
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eine Geschichte. In eine Geschichte aufgenommene Erinnerungen bekommen eine feste Hülle und gerinnen allmählich, so dass sie bei jeder weiteren Berührung etwas weniger schmerzlich sind. Aber hier handelte es sich offenbar um Material, das er nicht mit eingebunden hatte. Weil er es nicht gekonnt hatte. Die Angst des Jungen, irgendetwas mit seiner Mutter und Wagner. Bruchstücke eines unverdauten Stoffs ganz anderer Art. Etwas Unbekanntes, mit dem er offenbar nicht länger leben konnte, oder vielleicht besser gesagt: mit dem er nicht sterben konnte.
    Zufällig war ich immer mit ihm allein, wenn er so redete – was mir ein Gefühl großer Verantwortung vermittelte. Und es ließ auch den Gedanken bei mir aufkommen, dass er vielleicht Iezebel meinte, wenn er »Mutti« sagte, dass er wollte, ich solle meine Mutter beschützen.
    Wagner hatten sie bei ihm zu Hause viel gehört. Das wusste ich. Die Tür wurde geschlossen, alle mussten den Mund halten und stillsitzen. Wagner im Radio. Lohengrin, Die Meistersinger von Nürnberg, Der fliegende Holländer. Weihevolle Stille. Mein Vater mochte Wagner nicht, hatte ihn nie gemocht. Warum redete er jetzt von Wagner?
    4
     
    Nach dem Tod meines Vaters beschäftigte ich mich oft lange mit den wenigen Fotos, die es von Zewa gab. Wie bekannt sie doch irgendwie aussah, mit ihren dunklen Augen und Brauen, ihrem kleinen, feinen Mund, ihren hohen, breiten Wangenknochen und ihrem verletzlichen Blick. Als mein Vater noch lebte, hatte ich oft gedacht, dass es schön wäre, wenn ich sie beruhigen könnte. Ihr sagen könnte, dass wir für ihren Sohn sorgten, dass er bei uns ein gutes Leben habe. Jetzt, da er gestorben war, wünschte ich, Zewa möge wissen, dass er zu ihr unterwegs war, damit er nicht noch einmal nach ihr suchen musste. Wo bist du, Zewa, er kommt zu dir!
    Wenn ich sie mir vorzustellen versuchte, ihre Stimme, wie sie gesprochen hatte, kam mir immer das Bild von einem schüchternen, zurückhaltenden, verhuschten Menschen. Ich weiß nicht, ob das daran lag, dass ich, weil ich so wenig von ihr wusste, automatisch das Bild von meiner anderen Oma auf sie übertrug, die ich als scheu und zurückhaltend gekannt hatte. Oder vielleicht daran, dass ich selbst ziemlich schüchtern sein konnte.
    5
     
    Was mit seinen Eltern geschehen war, hat mein Vater erst Jahre nach dem Krieg erfahren. Sein Vater ist verhungert, in Bergen-Belsen. Zewa, die schöne, schüchterne, dunkle Zewa ist in Stutthof ermordet worden. Ob vergast oder erschossen oder gehängt, ist nicht bekannt. Ihr Verbrechen? Dass es sie gab. Natürlich weiß auch niemand, wo ihre sterblichen Überreste geblieben sind. Was aus Federmann geworden war, sollte mein Vater nie erfahren.
    Dass mein Vater von Natur aus optimistisch war, schallend lachen konnte und gerne Witze erzählte, war für mich, je älter ich wurde und je mehr Bücher ich über die Zeit las, in der er aufgewachsen war, ein immer größeres Wunder. Desto mehr tat es mir aber auch weh, wenn er fröhlich war, Späße machte oder mit großem Genuss Musik hörte. Dann liebte ich ihn zu sehr und hasste seine furchtbare Kindheit, dann wollte ich ihn rückwirkend beschützen und vor dem längst erlittenen Leid bewahren. Wie machtlos ich mir vorkam, dass ich nichts hatte verhindern können, und jetzt, im Nachhinein, auch nichts wiedergutmachen konnte! Überdies fürchtete ich immer, er könnte doch noch an irgendetwas erkranken und sterben, wogegen er nicht wie andere gefeit war.
    6
     
    Nicht lange nach dem Tod meines Vaters erhielten wir, als seine Familie, einen Brief von der Stadt Baden-Baden, seinem Geburtsort, aus dem er 1937 mit seinen Eltern hatte fliehen müssen.
    Die Familie meines Vaters hatte dort gewohnt und gearbeitet, bis Mitbürger und Braunhemden sie wie alle anderen jüdischen Familien terrorisierten und vertrieben. Man beschmierte die Fassade ihres Ladens, warf die Schaufensterscheiben ein, und zum Schluss konfiszierten die Nazis das gesamte Möbelimperium der Familie. Erst Anfang der achtziger Jahre war Herman zum ersten Mal wieder dort gewesen.
    Von einem Artikel Hermans in der Süddeutschen Zeitung tief ergriffen, hatte der inzwischen amtierende idealistische, junge Bürgermeister von Baden-Baden ihn eingeladen, von der Vertreibung und seinen eigenen bitteren Erfahrungen als kleiner Junge in dieser Stadt zu erzählen. Der Vortrag wurde zum Auftakt für Hermans großes Werk: das Gedenkbuch von Baden-Baden, die Geschichte seiner jüdischen Familien. Nach
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