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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition)
Autoren: Jessica Durlacher
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Rippen angeknackst. Er habe einen kaputten Nistkasten vom Baum holen wollen, sagte er.
    Mein Vater war recht rüstig, und so machten wir uns zunächst gar keine großen Sorgen, obwohl er ziemlich mitgenommen aussah, als er da auf dem Rasen lag. Meine Mutter hatte sich ja auch schon mal die Hüfte gebrochen. Mit einem Metallstift fixiert, würde das bald wieder verheilt sein. Schlimmer waren eigentlich die angeknacksten Rippen. Da konnte man nämlich nichts machen, die mussten von selbst heilen. Aber in einer Woche würde er bestimmt wieder aufstehen können, versicherte man uns.
    Wer hätte vorhersehen können, dass er nach wenigen Tagen im Krankenhaus bösartigen, gefräßigen Bazillen zum Opfer fallen würde? Warum passierte so etwas? Ich wollte dieses Krankenhaus belangen, fertigmachen, die Schließung erwirken. Aber was hatte mein Vater noch davon? Mein Vater, der nun doch noch umgebracht worden war, von einer blöden Bazille. Ein schwaches Herz, sagte der Arzt. Er trug eine Brille, deren Gläser seine Augen irrsinnig vergrößerten. Das müssen Sie doch gewusst haben, dass er ein schwaches Herz hatte. Vom Krieg her wahrscheinlich. Vom Hunger. Es ist wirklich ein Wunder, dass er so alt geworden ist. Das ist natürlich kein Trost, aber daran sollten Sie denken. Achtzig, so ein Alter grenzt unter diesen Umständen an ein Wunder.
    Mörder, dachte ich nur.
    Wenn jemand jung denkt, ist achtzig jung. Mein Vater war mein Vater und kein Greis, kein Achtzigjähriger. Aber was kümmerte das einen Mörder wie den? Erbarmungslos wurde Herman Silverstein und mit ihm die Liebe und die Angst sowie die wertvolle Sammlung von Erinnerungen, Interessen, Gedanken und Witzen, die ihn ausmachten, den Launen einer hungrigen Bazille ausgesetzt, die gar nicht in seine Nähe hätte gelangen dürfen. Vom Erdboden weggefressen wurde er, als hätte es ihn und all das, was er war, was er gesagt, gesungen, gelacht und gehofft hatte, nie gegeben. Mein lieber, schnurriger Vater wurde im Kampf gegen das Fieber, mit dem sein alter Körper die Entzündung seiner Lunge zu bekämpfen versuchte, immer magerer und kleiner und ausgehöhlter, bis am Ende scheinbar nichts mehr von ihm übrig war als ein fahlgelbes, hageres Gesicht und eine ganz leise Flüsterstimme. Dabei war mein Vater immer breitschultrig und robust gewesen.
    Wie Mitch, sein Enkel, mein Sohn.
    3
     
    Aber weniger sein rapider Verfall war es, was mich nicht mehr loslassen sollte, sondern mir ging – und geht auch jetzt, da ich weiß, woher es kam und wohin es schließlich führen würde – Hermans ängstliches, weinerliches Gemurmel in jenen letzten Tagen nicht mehr aus dem Ohr. An der Schwelle zum Tod flüsterte Herman Dinge, die ich auch mit größter Mühe kaum verstand, zumal er eine Sprache benutzte, die er in unserem Beisein nur selten gesprochen hatte, ein sanft und freundlich klingendes, leicht veraltetes Deutsch. Es hatte etwas Befremdliches, allzu Intimes, ihn so sprechen zu hören, und bestürzt musste ich mit ansehen, wie mein Vater die Rolle ablegte, die er immer für uns alle gespielt hatte. Verschwunden war der sarkastische alte Witzeerzähler, der liebe, beruhigende Papa, das hysterisch besorgte Familienoberhaupt, der traumatisierte, fanatische Buchhalter der Vertriebenen seiner Stadt. Und da lag nun ein kleiner Junge, der gerade erst am Beginn des Alptraums stand, der sein Leben werden sollte, unschuldig, aber bang, sterbensbang. Ich hatte mich immer mit dem begnügen müssen, der den Panzer trug, dem Mann mit den Erinnerungen. Erst jetzt, da es zu spät war, erhielt ich einen kleinen Einblick in die Person, die sich unter dem Ballast verbarg.
    »Mutti.«
    Ich wusste so wenig.
    Diese Mutti, die Mutter meines Vaters, hieß Zewa – Zewa Teubl, bis sie Izak Silverstein heiratete. Niemand weiß, wie sie starb, wer der Letzte war, mit dem sie sprach, was sie dachte, was sie sagte. Ihr Sohn schon gar nicht, und wenn es einen gab, der es gerne gewusst hätte, war er es. Seiner Erzählung nach hatte er sie an seinem fünfzehnten Geburtstag zum letzten Mal gesehen. Dem furchtbarsten Geburtstag seines Lebens. Wahrscheinlich erinnerte ihn von da an jeder Geburtstag und alles, was irgendwie gefeiert wurde, an diese Trennung, denn fröhlich war er bei solchen Anlässen nie. Ungefähr eine Stunde lang schaffte er es, ein Geburtstagsgesicht aufzusetzen und dabeizubleiben, wenn die Kerzen ausgepustet und die Geschenke ausgepackt wurden, oder beim Weihnachtsfest zu ertragen, dass
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