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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition)
Autoren: Jessica Durlacher
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verprügelt worden. Und was hatten sie gedacht, als sie in ihrem Adler die Stadt verließen, Zewa, ihr Mann Izak und Herman, und noch einmal zu ihrem Haus zurückschauten – hatten sie gedacht, dass sie es je wiedersehen würden? Hatten sie alle Höhepunkte ihres Lebens in dieser Stadt ein letztes Mal an sich vorüberziehen lassen, oder wollten sie da lieber nicht zu viel denken – damit der Abschied weniger endgültig war?
    Vielleicht hatten sie auch für nichts von alledem Zeit gehabt.
    17
     
    Beim Abendessen hatte ich Dieter von Felsenrath zu meiner Rechten, den Bürgermeister schräg gegenüber, und meine Mutter saß ein gutes Stück entfernt neben einem soignierten Herrn im Smoking. Links von mir saß eine Buchhändlerin, die sich in lebhaftem Dialekt mit der Frau mir gegenüber unterhielt. Mir fiel der Geruch auf, den Felsenrath ausdünstete, süßlich und ziemlich penetrant. Alkohol, wie mir erst nach einigen Minuten aufging. Ich rückte unwillkürlich etwas von ihm ab.
    Von Felsenrath hörte ich zum ersten Mal etwas über Zewas Briefe.
    Er habe meinen Vater sehr gemocht, sagte er, und er lobte dessen Gründlichkeit. Mein Vater habe ihm viel beigebracht.
    »Er war eigentlich immer Lehrer, auch wenn er sich einfach nur mit einem unterhielt. Er brachte mir bei, Fragen zu stellen«, sagte er. »Und wenn ich später las, wie er all die Fakten verwertet hatte, war ich immer wieder verblüfft. Er verstand es, Geschichten daraus zu machen, Leben daraus entstehen zu lassen. Er wollte jeden vor sich sehen können und starrte manchmal stundenlang auf Fotos.«
    Es war schon wieder viele Jahre her, dass mein Vater an dem Gedenkbuch gearbeitet hatte. Ich konnte mich gar nicht mehr im Einzelnen daran erinnern. Zu der Zeit hatte ich Examen gemacht und war nur selten bei meinen Eltern zu Hause gewesen. Zumal ich gerade mit Jacob zusammengezogen war. Ich war so froh darüber gewesen, mich endlich von meinen Eltern abgenabelt zu haben, dass ich mich einige Jahre lang nicht mehr so sehr mit meinem Vater beschäftigte.
    Dieter von Felsenrath erzählte, dass er meinem Vater nicht nur bei dem Gedenkbuch geholfen habe, sondern auch bei der privaten Suche nach Briefen, Dokumenten und sonstigen Unterlagen von seiner Familie. Geburtsurkunden, Beitrittserklärungen seiner Eltern zu Vereinen, Einwanderungspapiere von seinen Großeltern aus Rumänien, ein geschäftlicher Vertrag zwischen Hermans Vater und einem Cousin, eine Lizenz für den Export von Möbeln, all das hätten sie auftreiben können. Davon wusste ich nichts. Und wie Tara machte es auch mich mit einem Mal traurig, wie sehr mein Vater von dem, was hinter ihm lag, besessen gewesen war. Ich verstand das zwar, aber es war dennoch so, als sei die Vergangenheit viel wichtiger gewesen als wir, seine Kinder. Vielleicht wäre das anders gewesen, wenn er sich uns anvertraut hätte.
    Felsenraths Erzählung wurde dadurch unterbrochen, dass jemand gegen sein Glas tickte. Der Bürgermeister erhob sich und sprach einige Begrüßungsworte. Ich wurde mir bewusst, dass ich in der kurzen Zeit drei Gläser Wein getrunken und meine Mutter ihrem Schicksal überlassen hatte. Iezebel sah ein bisschen verloren aus.
    Nach den Worten des Bürgermeisters erwähnte Felsenrath die Briefe, die er zwischen den Papieren einer anderen Familie gefunden hatte, den Leeders. Das war ein Name, der mir vage bekannt vorkam. Es handelte sich um Briefe aus Westerbork, die meine Großmutter geschrieben hatte, wie er meinte.
    Überrascht fragte ich, ob mein Vater davon gewusst habe, und bekam nebenbei mit, dass Iezebel inzwischen in ein angeregtes Gespräch verwickelt war. Über die Wirtschaftslage wohlgemerkt.
    Felsenrath wusste, dass Fietje Leeder und Zewa hier in Baden-Baden befreundet gewesen waren. Fietje sei auch Jüdin gewesen, aber mit einem nichtjüdischen Mann verheiratet. Die Leeders hätten daher länger in der Stadt bleiben können als die Familie meines Vaters, seien aber schließlich auch nach Apeldoorn gegangen, wahrscheinlich ihretwegen.
    Zewa! Es war wie ein Schock, den Namen meiner schon fast mythischen Oma zu hören. Sie war plötzlich ganz nah.
    »Und wo sind diese Briefe jetzt?«, fragte ich.
    Felsenrath nahm seine Brille ab, putzte sie – und gestand. Er könne die Briefe nicht mehr finden. Vielleicht versehentlich falsch abgelegt. Er habe sie gesucht, weil er uns eine Kopie davon habe mitgeben wollen.
    »Es waren besorgte Briefe«, sagte er. »Briefe, denen man anmerkte, wie groß die Angst
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