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Überlebensübungen - Erzählung

Überlebensübungen - Erzählung

Titel: Überlebensübungen - Erzählung
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Ich saß im getäfelten, unaufdringlichen und günstigen Halbdunkel der nahezu menschenleeren Bar des Lutetia. Aber es war die falsche Uhrzeit; ich meine die Uhrzeit, hier in der Menge zu sein, die Uhrzeit, hier erwartet zu werden oder auf jemanden zu warten. Im Übrigen wartete ich auf niemand. Ich war gekommen, um entspannt einige Phantome der Vergangenheit heraufzubeschwören. Darunter vermutlich das meinige: das verfügbare junge Phantom des alten Schriftstellers, der ich geworden war. 
    Das Alter, die Endlichkeit waren natürlich vorhersehbar, von Anfang an der gemächlichen oder unheilvollen Banalität des Laufs der Dinge eingeschrieben. Keinerlei Überraschung, es endlich erreicht zu haben, auch kein Verdienst. Ein wenig Überdruss zuweilen, zugegeben. Auch Erstaunen, manchmal fröhlich, erregend, oder im Gegenteil gereizt, melancholisch, so viele Gelegenheiten verpasst zu haben, jung zu sterben.
    Aber Schriftsteller? War das in der fernen Zeit, die ich heraufbeschwor, wirklich so evident? Damals stand ich eher vor der radikalen Unmöglichkeit, sogar der Anstößigkeit des Schreibens.
    Ich saß also in der Bar des Lutetia, ich wartete auf niemand.
    Ich hatte lediglich den Wunsch, mein Dasein zu erproben, es auf die Probe zu stellen.
     
    Früher war das Lutetia ein Ort, den es zu meiden galt.
    Ich spreche natürlich von der Zeit der Besatzung. Und das Lutetia war gewiss nicht der einzige Ort, den es zu meiden galt. Es gab noch viele andere in der Pariser Topographie.
    Häufig Hotels. So das Majestic in der Avenue Kléber.
    1943, dem Jahr meiner zwanzig Jahre, Anfang jenes Jahres, durchstreifte ich häufig dieses Viertel. Ich kam zum Beispiel von der Avenue Niel, um an der Étoile oder, besser, an einer anderen Station in der Gegend die Metro zu nehmen. Wenn möglich musste man die Étoile meiden, es gab dort häufiger als anderswo Ausweiskontrollen. Oder ich verließ eine dieser Stationen und ging zur Avenue Niel. Manchmal, wenn das Wetter schön und die Laune gut war, nahm ich das Fahrrad. In diesem Fall mied ich auf dem Rückweg in mein Viertel des Panthéon ebenso wie auf dem Hinweg das Majestic in der Avenue Kléber.
    Doch welches Fortbewegungsmittel ich auch nahm, am Ende genügten einige hundert Meter vorgetäuschten Flanierens, um mich zu vergewissern, dass niemand mir folgte. Denn ich war auf dem Weg zu Henri Frager, zu »Paul«, dem Chef von Jean-Marie Action, meinem Buckmaster-Netz. Oder ich kam von einem Treffen mit ihm.
    Ich musste an einem bestimmten Wochentag zu einer bestimmten Uhrzeit am Vormittag auf ihn warten, auf dem Trottoir mit den ungeraden Hausnummern der Avenue Niel, genau zwischen der Nummer 1 und der Nummer 7, gegenüber den Magasins Réunis, heute der FNAC .
    Wenn er allein war, blieb er stehen, ich sprach mit ihm, wir erledigten rasch, was es zu regeln gab und was ganz
einfach sein konnte: ein ausgeführter Auftrag, über den ich ihm kurz berichten musste; ein auszuführender Auftrag, den er mir in groben Zügen erläuterte: Einzelheiten würden folgen, auf anderen Wegen übermittelt werden.
    Lauter banale Dinge.
    Wenn »Paul« nicht allein war, ließ ich sie vorbeigehen, ihn und seinen Begleiter oder seine Begleiterin. Nachdem ich sie passiert hatte, musste ich ein paar Dutzend Meter weitergehen und dann langsam umkehren.
    Es war keine übertriebene Vorsicht. Einem lauernden oder einfach an den Bewegungen auf der Straße interessierten Auge hätte dieses Manöver auffallen können, dieses ständige Hin und Her, die wechselnden Gesprächspartner ein und derselben Person. Doch mit einer übertriebenen Vorsicht wären die Dinge zu schwierig, zu kompliziert zu organisieren gewesen. Übertriebene Vorsicht war damals nicht unsere Stärke. Das zeigt die an häufig dramatischen, bisweilen komischen Beispielen reiche Geschichte der Résistance.
    Jedenfalls hätte übertriebene Vorsicht geraten, gar nichts zu tun und auf bessere Tage zu warten.
    Manchmal erwies es sich als notwendig, das Gespräch zu verlängern, wenn die zu erledigende oder zu besprechende Sache komplexer oder kniffliger war. Dann gingen wir auf ein Glas in ein nahes Bistro, das Frager aussuchte. Immer entschied er, wie vorgegangen werden sollte.
    An jenem Tag in der Bar des Lutetia erinnerte ich mich, bewusst auf der Suche nach mir selbst, an eine der ersten Male, als ich zu Beginn meiner Arbeit für Jean-Marie Action Frager begegnet war. Er hatte mich zu einem
stattlichen Gebäude bei der Porte des Ternes gebracht. Er
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