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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
Autoren: Lilach Mer
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es ein Trick des letzten schwachen Lichts, dies Funkeln, das über das Gesicht der Frau zu gleiten schien? Blinzelnd beugte Mina sich näher.
    »Daheim«, sagte sie leise, »wir sind wieder daheim. Obwohl ich gar nicht weiß, ob du jemals schon hier warst.«
    Sie strich über den winzigen gläsernen Ballschuh. Ließ den Blick wieder höher wandern, über die wogenden Kleiderfalten, die offenen, fliegenden Haare, die Schultern, so behütet unter dem Schwanenflügel. Und erst als sich ihr eigenes blasses Gesicht in dem Kristall fing - erst da erkannte sie, wer sie war, die tanzende Frau. Das eigensinnige Kinn. Die breite Stirn. Die Nase, die sie immer zu lang gefunden hatte und immer finden würde. Ein Fuchsgesicht. Ihr Fuchsgesicht.
    Es gab nichts zu denken, nichts zu verstehen. Der winzige, durchsichtige Mund lächelte zu ihr auf, ihr eigener Mund, stolz und wehmütig zugleich. Und langsam, zögernd erst, lächelte Mina zurück.
    Sie stellte die Spieluhr auf dem Fensterbrett ab. Sie wusste, sie würde mit ihren verletzten Fingern die winzige Kurbel auf der Unterseite nicht drehen können. Sie versuchte es nicht. Stellte sie nur ab, lauschte auf die Musik, die durch das Fenster wehte. Ließ die Gedanken schweifen, hinaus, hinaus auf das Feld, zu dem einsamen Baum, dem Baum, der von ferne aussah wie ein kleiner Mann mit einer Drehorgel. Spürte den Schlüssel warm auf ihrer Brust, lächelte breiter. Machte drei große Schritte zurück in den Raum.

    Knackend erwachten die alten Dielen zum Leben. Sie trat fester auf, drehte sich ein wenig, stampfte. Hörte ihre Schritte im Dachboden hallen, im Dachboden zuerst, und dann durch das ganze Haus. Staub rieselte von der Decke. Der Boden vibrierte unter ihr. Sie fasste den langen bunten Rock mit beiden Händen, breitete ihn aus wie eine Blütenwolke. Wirbelte einmal um sich selbst - und fing an zu tanzen.

Der letzte Ton der Spieluhr verklang, und die beiden gläsernen Figuren, der Schwan und die junge Frau, hörten auf, sich umeinander zu drehen. An der Fensterscheibe zerschmolzen die Eisblumen, langsam, eine nach der anderen, und dahinter neigte der Nachmittag sich dem Abend zu.
    Die alte Frau zog ihre Hand unter dem Kissen hervor, die linke, und legte sie auf die Bettdecke. Das feine Geflecht der Narben reichte bis über das Handgelenk hinauf, wo es in weißen Spitzen verschwand. Zwei Eheringe glänzten golden an dem Finger, dem das oberste Glied fehlte.
    »Also deshalb«, murmelte die Tochter mit belegter Stimme.
    Großmutter Mina nickte.
    »Ja. Das Glas zerschnitt mir die Hände und Arme schlimm. Es brauchte lange, bis ich nur die Finger wieder bewegen konnte. Aber zu unserer Hochzeit«, ein kurzes, unwillkürliches Lächeln wärmte ihr das Gesicht, »ging es wieder recht gut. Nur den einen, den hat es heftiger erwischt.«
    »Zu eurer Hochzeit?«, fragte die Enkelin und wischte sich die Tränen ab; Tränen und Kringelkrümel. »Aber Mama
sagt, der Urgroßvater wäre ein so strenger Mann gewesen. Wie hast du ihm denn nur beigebracht, dass du einen … einen …«
    »… Zigeuner heiraten wolltest«, sprach Mina für sie zu Ende. »Sag es ruhig, Liebchen, er hätte nur darüber gelacht. Ach, es hat lange gedauert. Mehr als zehn Jahre, kannst du dir das vorstellen? So langes Warten …«
    Und so viel Schmerz, hätte sie sagen sollen. Und so viel Streit. So viele Gespräche zwischen Vater und Tochter, die kaum weniger als eine Erpressung waren. So viel Leid, das aufgerührt wurde, wie grauer Schlamm in Ecken und Winkeln liegen blieb, auch als das Wasser sich langsam klärte. Sollte sie hiervon diesem blutjungen Mädchen erzählen? Von all den Tricks, den Lügen und Kniffen, die zur Erpressung hinzukamen und sie erst vollendeten? Von den Tränen der Mutter, die nichts verstand, aber alles fühlte, von den Seufzern des Vaters, die das Haus anfüllten? Vom bitteren Geruch der Myrten auf dem weißen Schleier?
    Sie sah auf ihre Hand, die beiden schmalen Ringe. So feines, schimmerndes Gold … Wie von einem Märchenschatz. Oder wie der Leib eines Schlangenkönigs, der Geschenke machte, die Versprechen tragen konnten. Tragen, bis es Zeit war, sie einzulösen.
    Sie beugte sich vor über das Bett, sah ihrer Enkelin in die weiherdunklen Augen.
    »Weißt du nicht, meine Kleine«, flüsterte sie, in dem alten, verschwörerischen Geschichtentonfall, und sie konnte fühlen, wie ihre Tochter die Ohren spitzte, »weißt du denn nicht, wie es in den Liedern heißt? Wenn die Zigeuner ans Tor
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