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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
Autoren: Lilach Mer
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Zeichen. Hieß es sie nun willkommen?
    Sie zögerte. Wie groß alles war. Wie fremd, und wie schmerzhaft vertraut. Hatte das Haus wirklich so dagelegen, die ganze Zeit über, die sie fort gewesen war? Ruhig, gelassen, als wäre überhaupt nichts geschehen? Klein fühlte sie sich vor der steil aufragenden Fassade; klein und unbeachtlich. Sie zog die Hand zurück, die sie schon gehoben hatte, um den schweren Torriegel zu öffnen.
    Aber hinter ihr rauschte es im Feld, und das Geräusch schien sie sanft vorwärtszuschieben. Nicht auf das Tor zu, sondern am Zaun entlang, das Landstraßenstück bis zur Gartenhecke; zu der kleinen Pforte, wo das zweite eingekratzte Zeichen auf ihre tastenden Finger wartete. Das niedrige Türchen öffnete sich lautlos, wie beim ersten Mal, als sie hindurchgegangen war. Da war der Garten, warm, duftend; ihre nackten Füße auf dem schmalen Weg leise wie Mäusetritte. Die rückwärtige Fassade, älter, brüchiger als das Straßengesicht, und die bescheidene Hintertür, wie geduckt. Alle Tater kamen an die Hintertür, nicht wahr? Sie zog Liljas Fransentuch enger um ihre Schultern, fühlte, wie ihr Nacken sich dabei streckte. Und lauschte gleichzeitig besorgt nach Geräuschen aus dem Haus.

    Es rührte sich nichts, selbst dann nicht, als sie schon im Flur war, das schwarz-weiße Muster der Fliesen wie ein Gruß von Tausendschön. Sie blieb stehen, die Klinke noch in der Hand, zögerte unsicher. Sollte sie rufen? Das Abendessen musste schon vorbei sein, die Mädchen und Mamsell waren bestimmt unten in der Küche. Mutter würde im Damensalon ruhen, Vater im Studierzimmer sitzen. Sollte sie hineingehen, zu einem, zu beiden? Und wenn sie dann aufblickten, ein müder, ein fester Blick, voller Sorge wohl beide und noch ganz unwissend - was würde sie sagen? Was würde sie fühlen?
    Sie stand so eine lange Zeit, nicht wirklich im Haus, nicht wirklich draußen. Bis ihr Blick auf die Treppe fiel; die Treppe nach oben. Dann bewegten sich ihre Füße von selbst, trugen sie die Stufen hinauf, während das bunte Kleid um ihre Knöchel raschelte. Kaum ein Atemzug, schon war sie dort, unter der Luke, bei der letzten kleinen Treppe. Das schwere Holz wich beinahe mühelos vor ihrem Händedruck zurück. Und der Dachboden empfing sie schweigend.
     
    Ein paar kurze Tage; eine Ewigkeit. Alles war so, wie sie es zurückgelassen hatte. Die alten Kleider in ihren Mottensäcken, die Möbel mit zerbrochenen Beinen. Die Bilderrahmen ohne Bilder. Nur das Fenster war geschlossen worden. Seine halbblinden Scheiben versperrten den Blick nach draußen. Es erschien ihr seltsam falsch. Mit vorsichtigen Schritten ging sie darauf zu, bemühte sich, nichts anzustoßen, aufzurühren. Leise, leise, hieß es auf dem Dachboden sein … Der Gedanke war wie ein Echo von sehr weit her. Unten im Haus noch immer kein Laut, auch dann
nicht, als sie die knirschenden Fensterflügel aufstemmte. Kühle Luft blies ihr ins Gesicht, fuhr in den Dachboden hinein.
    Sie stützte die Ellenbogen behutsam auf das Fensterbrett und lehnte sich nach draußen; unter ihrem Kleid klirrte das Medaillon an seiner Kette zart gegen den Schlüssel des Schlangenkönigs. Die Amseln waren verstummt. Der Himmel war dunkel geworden, ein Graublau, das schon Schwarz ahnen ließ. Wie weit der Blick von hieraus ging … Und wie klar sie sehen konnte, trotz des schwachen Lichts, jetzt, wo die Scheiben offen standen. Dort, auf dem Feld, ein einzelner Baum, kaum so groß wie ein Mann.
    Mina richtete sich auf und runzelte die Stirn. Ein Baum mitten auf dem Feld? Sie strengte die Augen an, kniff die Lider zusammen. Der Baum stand ganz still, kein Zweig rührte sich. Aber das Rauschen der Ähren schwoll an, und sehr leise, wie verstohlen, kam mit ihm eine Melodie, die zu Mina durch das Dachbodenfenster hereinschwebte. Eine ganz einfache, kleine Melodie, voller Weite, voller Sehnsucht …
    Mina atmete aus. Atmete ein. Hielt die Augen auf den Baum gerichtet; schlank, aber seltsam verdickt in der Mitte. Fast so wie ein Mensch, der etwas vor sich stehen hatte, das ihm bis an die Brust hinaufreichte. Etwas Eckiges, auf einem langen, dünnen Dorn.
    Minas Herz klopfte.
    Ohne hinzusehen, setzte sie ihr Bündel ab. Zog die Spieluhr hervor, die verhüllten Formen. Die Melodie draußen schien anzuschwellen, als sie die Blätter langsam löste. Da waren sie, der strahlende Schwan, die schimmernde Frau,
unversehrt, leuchteten zu ihr auf. Plump streichelte sie über die Kristallfiguren.
    War
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