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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen
Autoren: Ortwin Ramadan
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davon!
    »Da… Danke!«, stotterte er.
    Auch sein Bruder war hin und weg. Er versuchte sogar durch das bedruckte Papier hindurchzusehen.
    »Nun wedel damit nicht so in der Gegend herum!«, schalt Yoba ihn. Gleichzeitig blickte er sich rasch um. Erleichtert stellte er fest, dass ihnen niemand auf der Straße Beachtung schenkte.
    Yoba faltete seinen Anteil sorgfältig zusammen und steckte die Scheine in seine Unterhose. »Wenn du willst, nehme ich dein Geld und pass darauf auf«, sagte er zu Chioke.
    Doch der warf energisch den Kopf hin und her und presste die Banknoten erschrocken an sich.
    »He, das war ja nur ein Vorschlag!«, beruhigte Yoba ihn. »Behalte sie einfach, okay?« Plötzlich stutzte er. »Was will der denn von uns?«
    Aus dem Gewühl der Straße löste sich ein barfüßiger Junge. Er war ungefähr in Chiokes Alter und sein linker Fuß war verkrüppelt.
    »Was willst du?«, fragte Yoba, als der Junge vor ihnen stehen blieb.
    »Du sollst zu Big E kommen«, antwortete der Knirps, ohne Anthony eines Blickes zu würdigen.
    Yoba wurde sofort hellhörig. Wenn Big Eagle eigens einenBoten zu ihm schickte, musste es wichtig sein. Wie die meisten Jungs im Viertel hatten er und Chioke für Big E bereits kleinere Jobs erledigt. Anthony wusste natürlich nichts davon.
    Bislang war es stets gleich abgelaufen: Yoba hatte von einem Mittelsmann ein mit braunem Ölpapier umwickeltes Päckchen in Empfang genommen und es zusammen mit Chioke an der angegebenen Adresse abgeliefert. Danach hatte er seine Belohnung kassiert und keine weiteren Fragen gestellt. Der Inhalt der Pakete hatte ihn nie interessiert. Was zählte, war allein die Tatsache, dass er und sein Bruder nach einem dieser Aufträge mindestens eine Woche lang nicht hungern mussten.
    »Was will Big E denn von uns?«, wollte Yoba wissen. Er hoffte, Anthony würde jetzt keine neugierigen Fragen stellen.
    »Was weiß ich, was Big E von dir will.« Der Botenjunge stand vor ihnen und popelte in der Nase. »Ich hab’s dir gesagt – also schuldest du mir was.«
    Mit diesen Worten drehte er sich um und hinkte davon. Kurz darauf war sein krauser Haarschopf im Gewühl der Passanten untergetaucht.
    »Du solltest nicht hingehen.« Anthony hatte die Unterhaltung mit stummem Missfallen verfolgt. »Big Eagle ist ein Ungeheuer.«
    »Ach, Großvater«, lachte Yoba bitter. »Mit Ungeheuern haben wir Erfahrung. Frag Chi-Chi!«
    Sein kleiner Bruder schien mal wieder ganz in seiner eigenen Welt versunken zu sein. Er starrte mit unbewegter Miene auf die andere Straßenseite, wo ein störrischer, mit Stoffballen überladener Esel die Fahrbahn blockierte und von seinem Besitzer mit wüsten Stockschlägen malträtiert wurde.
    »Ich muss gehen«, entschied Yoba. »Sonst schaffen wir esnie zu meinem Onkel nach Europa. Oder soll ich etwa ewig Autos putzen?«
    »Was ist so schlimm daran?«, entgegnete Anthony. »Sieh mich an: Ich bin kein Gangster und ich habe jeden Tag zu essen und einen Platz zum Schlafen.« Er deutete auf seinen undichten Bretterverschlag.
    »Aber du bist alt!«, protestierte Yoba. »Chi-Chi und ich sind jung! Wir haben unser ganzes Leben noch vor uns, verstehst du? Ich will nicht den Rest meiner Tage an meinen leeren Bauch denken. Außerdem will ich mir endlich kaufen, was ich will. Sieh dir nur Chi-Chis Füße an! Woher soll ich das Geld für Schuhe nehmen? Mit Autowaschen werden wir ja nicht mal richtig satt!«
    Anthony schwieg. Heutzutage schienen die jungen Leute immer gleich nach den Sternen zu greifen. Sie sehnten sich nach einem Leben, das er nicht kannte. Dennoch ließ er nicht locker.
    »Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben!«, flehte er Yoba an. »Diese Gangster machen dich vielleicht reich. Das weiß ich nicht. Aber ich weiß ganz sicher, dass sie dich und deinen Bruder ins Unglück stürzen werden!«
    »Keine Sorge!«, wiegelte Yoba ab. »Ich werde schon aufpassen.« Der alte Greis war ihm längst ans Herz gewachsen. Er erinnerte ihn an seinen eigenen, blinden Großvater. Er hatte bis zuletzt jeden Tag auf dem Dorfplatz gesessen und seine Geschichten zum Besten gegeben.
    »Ich halte mich aus allen gefährlichen Sachen raus«, versicherte Yoba ihm. »Das Einzige, was ich will, ist ein bisschen Geld verdienen.«
    Er schlüpfte in seine Plastikschlappen und erhob sich. Aufder anderen Straßenseite lieferte sich der Eselbesitzer mittlerweile eine handfeste Auseinandersetzung mit einem Lastwagenfahrer. Ein Stau hatte sich gebildet und weitere Fahrer waren
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