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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen
Autoren: Ortwin Ramadan
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um ein blau-rot gestreiftes Fußballtrikot mit der Nummer zehn auf dem Rücken.
    »Halt!«, rief Julian ihr hinterher. »Woher haben Sie das?« Dann sagte er aufgeregt zu Adria: »Ich kenne das Trikot. Der Junge beschreibt es in seinem Tagebuch. Er hat es seinem Bruder am Anfang ihrer Reise auf dem Markt gekauft!«
    Adria wechselte mit der verblüfften Krankenschwester ein paar Worte auf Italienisch, woraufhin sie die beiden in ein kleines Krankenzimmer führte. Dort lag ein afrikanischer Junge in einem viel zu großen Bett. Er schien zu schlafen. Schläuche hingen aus seinen Venen und sein magerer, nicht zugedeckter Oberkörper war dick mit einer Salbe eingeschmiert. Julian erkannte die Narbe der Voodoo-Zeremonie sofort. Er zog das Tagebuch heraus und blätterte hastig zu der winzigen Zeichnung. Es gab keinen Zweifel: Zwei Striche in Form eines Ypsilons und darunter eine gezackte Linie – es war das gleiche Voodoo-Zeichen wie in dem Buch.
    »Die Schwester behauptet, er redet nicht«, übersetzte Adria. »Sie glaubt, der Junge ist vielleicht stumm oder zumindest schwer traumatisiert.«
    »Er ist Autist«, erwiderte Julian. »Sag ihr das. Das ist wichtig.«
    Zögernd trat er näher an das Bett. Der Anblick des Jungen war erschütternd. An seinem ganzen Körper löste sich die Haut in großen Fetzen.
    »Die Schwester sagt, er hat einen schweren Sonnenbrand und ist völlig entkräftet«, dolmetschte Adria weiter. »Ein Fischer hat ihn gestern auf einem schwimmenden Brett gefunden. Er muss tagelang auf dem Meer getrieben sein.«
    Julian blickte auf den mageren Jungen hinab. »Frag die Schwester, was jetzt mit ihm passiert.«
    Adria wechselte erneut ein paar Sätze mit der Krankenschwester. Dann sagte sie: »Wenn er überlebt, wird er zurückgeflogen. So wie die anderen auch.«
    »Und wohin?«
    »Das weiß sie nicht. Sie sagt: Irgendwohin nach Afrika eben.«
    Julian stand fassungslos mit dem Buch neben dem Bett. Er fühlte sich so hilflos wie noch nie. Tränen rannen ihm über das Gesicht. Er legte das grüne Büchlein neben dem Jungen auf das Bettlaken. In diesem Moment öffnete Chioke die Augen. Als er das Tagebuch seines Bruders entdeckte, streckte er seine zittrigen Finger danach aus, um es zu berühren. Julian gab es ihm. Chioke sah den fremden Jungen flehend an.
    »Yoba?«, krächzte er.
    Über ihnen donnerte ein weiterer Airbus hinweg.

Ortwin Ramadan ist Halb-Ägypter und wurde 1962 in Aachen geboren. Er lebt am Ammersee und arbeitet seit seinem Politik- und Ethnologiestudium als Drehbuchautor und freier Autor.
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