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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen
Autoren: Ortwin Ramadan
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und legte ein Stück Wurzelholz in das aufflackernde Feuer. Wie die meisten Mädchen in Westafrika trug sie ein farbenfrohes, mit traditionellen Stammesmustern bedrucktes Kleid. Ihr Haar war von einem kunstvoll arrangierten Kopftuch bedeckt, dessen leuchtendes Gelb sorgfältig auf das Grün-Schwarz des knöchellangen Kleides abgestimmt war. Sie warf ein weiteres Holzstück in die Flammen und hatte Mühe, mit ihrem verletzten Bein wieder aufzustehen. Ihre Mutter war wie jeden Freitagmorgen mit dem Moped-Taxi zum Markt gefahren, und solange sie fort war, trug Adaeke die Verantwortung für das Geschäft.
    Ihre mit Brettern überdachte Straßenküche stand unter einer großen Werbetafel für eine einheimische Biermarke, auf der ein junges und vor Glück strahlendes afrikanisches Pärchen den Passanten verheißungsvoll entgegenlächelte. Die Garküche selbst bestand lediglich aus dem Lehmherd, einem großen, zerbeulten Aluminiumtopf und zwei schiefen Plastiktischen samt Kisten zum Sitzen. Diese ärmliche Ausstattung tat der Beliebtheit der Küche jedoch keinen Abbruch, was nicht zuletzt an Mama Kambinas Kochkunst lag. Manche behaupteten, ihre Bitterblatt-Suppe sei die schärfste der Stadt, was in Nigeria durchaus als Kompliment zu verstehen war. Soweit Adaeke wusste, stammte die Rezeptur von ihrer Ur-Ur-Großmutter, und über das Geheimnis der Zutaten wachte ihre eigene Mutter ebenso eifersüchtig wie über die Jungfräulichkeit ihrer Tochter.
    Adaeke warf eine Handvoll Chilischoten und ein mittelgroßes Stück Räucheraal in den riesigen Topf auf dem Herd. Anschließend rührte sie mit einem Holzlöffel um. Noch war die dickflüssige Suppe lauwarm. Aber das war kein Problem. Die meisten ihrer Kunden waren Besucher des gegenüberliegenden Gefängnisses und das öffnete seine Tore ohnehin erst am späten Vormittag. Vorausgesetzt natürlich, man verfügte über das nötige Bestechungsgeld für die Wärter. Plötzlich riss sie eine gut gelaunte Stimme aus ihren Gedanken.
    »Guten Morgen, du schönste aller Blumen Afrikas!«
    Adaeke stieß vor Schreck einen Schrei aus und fuhr herum. Hinter ihr standen zwei verdreckte Jungen in zerrissenen Hosen. Es waren Yoba und sein kleiner Bruder.
    »Müsst ihr mich so erschrecken?«, schimpfte Adaeke. Dabei fuchtelte sie mit dem übergroßen Holzlöffel in der Luft herum.
    »Tut mir leid«, erwiderte Yoba und setzte seine beste Unschuldsmiene auf. »Aber Chioke und ich haben Hunger.«
    »Ach ja? Und was geht mich das an?« Adaeke rammte den Löffel zurück in den Topf und rührte zornig darin herum. »Außerdem ist die Suppe noch nicht heiß. Ich habe gerade erst Feuer gemacht.«
    »Hast du noch Schmerzen in deinem Bein?«, erkundigte sich Yoba. »Hat die Polizei den Okada-Fahrer gefunden?«
    »Machst du dich etwa lustig über mich?« Adaeke hörte mit dem Rühren auf. Gleichzeitig warf sie einen schuldbewussten Blick über die Schulter. »Ich erzähle euch was. Aber ihr müsst mir versprechen niemandem etwas davon zu sagen. Vor allem meiner Mutter nicht!«
    »Keine Sorge.« Yoba knuffte seinen Bruder in die Seite. »Der hier kriegt den Mund sowieso nicht auf.«
    Er setzte sich an einen der Tische. Adaeke wischte sich dieHände an einem schmutzigen Tuch ab und beugte sich zu ihm hinunter. »Ich war in der Kirche«, raunte sie geheimnisvoll.
    »Na und?« Yoba wunderte sich. »Was soll daran so besonders sein?«
    Erneut sah sich Adaeke hastig um. Dann flüsterte sie: »Da habe ich zu Jesus gebetet, damit der Fahrer einen Unfall hat. Er soll genauso viele Schmerzen haben wie ich!«
    Nach diesem Geständnis rührte Adaeke weiter in der Suppe und wirkte irgendwie zufrieden. Yoba hingegen konnte seine Verwunderung kaum verbergen. Wenn er den Pfarrer in seinem Dorf richtig verstanden hatte, flehten Christen den Heiland um Beistand an. Nicht, um jemandem zu schaden.
    »Das wirkt ganz sicher!«, versicherte Yoba seiner Freundin mit dem gebührenden Ernst. »Der Mann wird bestimmt einen Unfall haben.« Nebenbei linste er in den Topf. »Wann ist die Suppe denn fertig?«
    Adaeke verdrehte die Augen. Sie ging zu einem mit Wasser gefüllten Eimer und nahm zwei bunte Plastikschüsseln heraus. Erst jetzt sah man, dass sie schwer hinkte. Ein betrunkener Okada-Fahrer hatte ihr am Unabhängigkeitstag das Knie zertrümmert. Während Adaeke blutend auf der Straße gelegen hatte, war der Mann einfach in Schlangenlinien davongefahren. Yoba und Chioke waren zufällig Zeuge gewesen und hatten Adaeke geholfen,
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