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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen
Autoren: Ortwin Ramadan
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war nicht zu übersehen. Mit Unbehagen registrierte Yoba, dass der Anführer der Kinderbande total bekifft war. Allem Anschein nach waren sie irgendwie zu Geld gekommen.
    Ehe Yoba reagieren konnte, versetzte eines der Kinder Chioke einen heftigen Stoß. Sein Bruder strauchelte und landete in einem Abfallhaufen an der Hauswand. Sofort erhob sich eine wütende Wolke aus fetten schwarzen Fliegen. Chioke schrie und schlug mit den Armen um sich.
    »Seht euch den Krüppel an!«, höhnte der Junge, der ihn gestoßen hatte. Er war bis auf eine kurze, löchrige Turnhosenackt. Sein magerer Körper und seine gekräuselten Haare waren komplett mit Sandstaub bedeckt.
    »Du hast doch keine Ahnung!«, schrie Yoba den Jungen an. »Mein Bruder ist kein Krüppel! Wehe, du fasst ihn noch mal an!«
    »Sonst passiert was …?« Kalu machte einen Schritt auf Yoba zu und entblößte seine abgebrochenen Schneidezähne. Plötzlich hielt er ein selbst gebasteltes Messer aus einem spitz zugefeilten Stück Blech in der Hand. Seine Kumpels zogen rostige Nägel aus den Hosentaschen.
    Um Hilfe zu rufen hatte keinen Sinn. Das wusste Yoba nur zu gut. Wenn man in dieser Stadt um Hilfe rief, erreichte man das genaue Gegenteil. Alle verschwanden wie durch ein Wunder von der Bildfläche. Also sah er sich verzweifelt nach einem Fluchtweg um. Für sein Alter war Yoba zwar überdurchschnittlich groß, aber mit dieser Übermacht konnte er es nicht aufnehmen. Er machte sich bereits auf das Schlimmste gefasst, als plötzlich auf der Hauptstraße ein Polizeiwagen im Schritttempo vorbeikroch. Der Wagen bremste, setzte zurück und hielt genau vor dem Eingang der engen Gasse.
    Ein übergewichtiger Polizist in kurzärmeliger Uniform lehnte sich aus dem Fenster und sah gelangweilt zu ihnen herüber. Offenbar überlegte er, ob es die Mühe wert war, auszusteigen und sich einzumischen.
    Kalu wurde sofort nervös. Er kannte den fetten Bullen und verspürte wenig Lust, von ihm noch einmal zusammengeschlagen zu werden. Also gab er seiner Bande das Zeichen zum Rückzug. Als er an Yoba vorbeikam, versuchte er dennoch ihm mit dem Blechmesser unauffällig die Seite aufzuschlitzen.Aber Yoba war darauf gefasst. Mit einer blitzschnellen Drehung wich er dem heimtückischen Stoß aus.
    »Bis zum nächsten Mal, du Kakerlake!«, zischte Kalu. Er ließ das selbst gebastelte Messer unter seinem ausgebleichten T-Shirt verschwinden und trottete mit den anderen davon. Auch der Polizeiwagen setzte sich wieder in Bewegung.
    »Hey, es ist vorbei!« Yoba drückte seinen Bruder fest an sich. Chioke zitterte am ganzen Körper. »Du hattest doch nicht etwa Angst?«, versuchte er ihn aufzumuntern.
    Chioke schluchzte.
    »Mach dir nichts draus«, sagte Yoba. Er schob seinen Bruder ein Stück von sich weg und wischte ihm die Tränen aus dem schmutzigen Gesicht. »Ich hatte auch Angst. Jede Menge sogar. Aber heute scheint unser Glückstag zu sein, meinst du nicht auch? Mutters Geist beschützt uns!«
    Chioke biss sich auf die Unterlippe und senkte den Kopf. Er blickte stumm auf seine blutigen Füße.
    Der Parkplatz der ausländischen Firma war von einem meterhohen Maschendrahtzaun umgeben. So wie alle Stellplätze in der Stadt. Niemand wäre so verrückt gewesen, sein Auto einfach so am Straßenrand abzustellen. Anthony, der alte Wächter des Firmenparkplatzes, wohnte in einem Bretterverschlag direkt neben der Zufahrt. Sein Bett bestand aus einer ausgebauten Autorückbank, deren Polster mit den Jahren rissig geworden war. Dennoch verging kein Tag, an dem Anthony nicht pünktlich um acht Uhr die Kette löste, das quietschende Tor öffnete und die ersten Firmenangestellten in einer tadellos gebügelten Uniform begrüßte. Viele der Angestellten waren US-Amerikaner. Sie wohnten in den Villenvierteln außerhalb der Stadt und für die gestressten Pendler war Anthonys freundliches Gesicht in der Regel die erste angenehme Erscheinung des Tages.
    An diesem Morgen vermochte Anthonys Begrüßung allerdings kaum jemanden aufzuheitern. Zu dem alltäglichen Verkehrschaos gesellte sich die drückende Hitze und der Sand des Harmattan. Die Ausländer fuhren grußlos an ihm vorbei, sprangen aus ihren Wagen und retteten sich in den Schutz des klimatisierten Firmengebäudes. Anthony taten diese Menschen leid. Die meisten Weißen kannte er nun schon lange und ihm kam es so vor, als würde Afrika ihre bleichen Gesichter nicht nur röter, sondern auch härter machen.
    Als der alte Parkplatzwächter Yoba und seinen
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