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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen
Autoren: Ortwin Ramadan
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auf den hässlichen, mit Stacheldraht gesicherten Bau auf der gegenüberliegenden Straßenseite. »Es ist besser, ihr beiden kehrt in euer Dorf zurück«, sagte sie mit strenger Miene.
    »Das können wir nicht«, erwiderte Yoba, während er auf einer gegarten Schnecke herumkaute. Sie schmeckte göttlich.
    »Und weshalb nicht?«, erkundigte sich Adaeke. »Habt ihr was angestellt?«
    Yoba schüttelte den Kopf. »Es ist wegen meinem Vater.« Er zögerte. »Und wegen Chi-Chi«, fügte er leise hinzu.
    Yoba mochte Adaeke. Er mochte ihre hohen Wangenknochen und er fand, sie war das hübscheste Mädchen, dem er jemals begegnet war. Wenn er genug Geld hätte, würde er sie auf der Stelle heiraten. Auch wenn viele das anders sahen, aber ihm war ihr zertrümmertes Bein egal. Trotzdem wollte er nicht mit ihr darüber reden. Yoba sah seinem Bruder dabei zu, wie er seine Schüssel mit einem Stück Maniokteig immer wieder ausputzte, obwohl sie bereits blitzblank war. Seine Wangen glühten vor Glück.
    Mit einem Seufzer der Erleichterung stellte Yoba seine leere Schüssel auf den Tisch. »Das vergesse ich dir nie!«, sagte er zu Adaeke und tätschelte seinen Bauch unter dem löchrigen T-Shirt. »Ich bin so voll, dass ich gleich platze!«
    Bevor Adaeke etwas erwidern konnte, erklang inmitten des Straßenlärms ein schrilles Kreischen. Ihre mit Körben und Tüten beladene Mutter stampfte wie ein wütender Wasserbüffel direkt auf sie zu. Dass sie im Gedränge des Marktes das Opfer eines jugendlichen Diebes geworden war, der ihr in einem unachtsamen Moment zwei prächtige Yamswurzeln stibitzt hatte, hatte ihre Laune nicht gerade gebessert.
    »Ihr nichtsnutzigen Bettler!«, keifte Mama Kambina schon von weitem. »Verschwindet aus meinem Restaurant! Bei mir gibt es nichts umsonst!«
    Schon flog eine Wurzelknolle durch die Luft. Sie verfehlte Yoba nur um Haaresbreite. Chioke sah ihn verständnislos an.
    »Oje!«, jammerte Adaeke. »Meine Mutter ist heute besonders schlecht gelaunt.«
    »Das kann man wohl sagen!«, meinte Yoba nur.
    Er griff nach der Hand seines Bruders, dann suchten die beiden schleunigst das Weite.
    »Lasst euch hier nie wieder blicken!«, schrie ihnen Adaekes Mutter hinterher. Die ersten Leute auf der Straße drehten sich bereits um. »Hätte eure Mutter euch doch nie geboren! Ihr elenden Diebe!«
    Da war es, das Wort. Yoba fuhr es eiskalt den Rücken herunter. Jetzt wurde es brenzlig. In dieser Stadt klaute für gewöhnlich jeder, egal ob reich oder arm. Selbst die Polizisten nahmen, was ihnen nicht gehörte. Aber nichts schien den Menschen mehr Vergnügen zu bereiten, als einen Dieb zu jagen und ihn halb totzuprügeln. Yoba zerrte seinen Bruder hastig hinter sich her. Erst als sie in eine enge, zugemüllte Gasse eingebogen waren, atmete er erleichtert auf.
    »Das war knapp!« Yoba legte den Arm um seinen Bruder. »Verstehst du vielleicht, warum Erwachsene wegen einem bisschen Essen immer so ein Theater machen?«
    Chioke hatte die Hände auf seinen Bauch gelegt, so als befürchte er, jemand könnte ihm die gerade genossene Mahlzeit wieder entreißen.
    »Was soll’s!«, meinte Yoba und gab ihm einen Klaps auf den Rücken. »Auf jeden Fall macht die alte Hexe die beste Onugbo-Suppe der Welt!«
    Jetzt nickte Chioke heftig.
    »Gutes Essen!«, stammelte er mit leuchtenden Augen.

3.
    Als Yoba und sein Bruder die schmale Gasse wieder verlassen wollten, versperrte ihnen plötzlich eine Handvoll Straßenkinder den Weg. Sie waren unterschiedlich alt, aber alle liefen barfuß und waren in Lumpen gehüllt.
    »Sieh an, wen haben wir denn da?«, sagte ihr Anführer spöttisch. »Unsere Dschungelaffen!«
    Kalu war der unumstrittene Boss der Kinder aus der Azikiwe Road. Obwohl er klein gewachsen und dürr wie eine Bohnenstange war, fürchtete ihn jeder. Unter den Straßenkindern der Stadt erzählte man sich, Kalu habe einmal einer trächtigen Hündin den Bauch aufgeschlitzt und die lebendigen Welpen über einem Feuer gegrillt.
    »Keine Angst!«, raunte Yoba seinem Bruder zu. »Sie werden uns nichts tun. Das verspreche ich dir.«
    Mutig trat er Kalu entgegen. »Lasst uns in Ruhe! Das hier ist nicht euer Gebiet!«
    »Unser Gebiet ist da, wo ich es sage.« Kalu deutete auf die ausgeleierten Schlappen an Yobas Füßen. »Gib mir die!«
    »Niemals!«, erwiderte Yoba. Auch wenn die Plastikschlappen längst auseinanderfielen, sie hatten ihn einen ganzen Naira gekostet. Außerdem hätte es sowieso nichts genutzt. Kalu wollte Streit, das
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