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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen
Autoren: Ortwin Ramadan
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Fußgängerzone am Samstag!«, keuchte sie. »Ich weiß gar nicht, wie man diese Enge und diesen Benzingestank aushalten kann!«
    »Der Gestank kommt von den startenden und landenden Flugzeugen«, sagte Luigi. »Drinnen in den Räumen ist es noch schlimmer.«
    »Aber warum bringen sie überhaupt noch Leute hierher?«, wunderte sich Julian. »Hier ist kein Platz mehr. Das sieht doch jeder.«
    Der Taxifahrer blieb stehen: »Lampedusa liegt nur hundertzwanzig Kilometer von der afrikanischen Küste entfernt«, klärte er sie auf. »Bei uns landen nicht nur viele Flüchtlingsboote, von hier aus lassen sich die Leute auch am einfachsten wieder zurückschicken. Deshalb werden mittlerweile illegale Immigranten aus ganz Italien hierhergebracht.«
    Adria bemerkte die misstrauischen Blicke, die die Lagerinsassen ihnen zuwarfen, und fühlte sich wie eine Gafferin. Vom Kerosingestank hatte sie mittlerweile üble Kopfschmerzen. »Und was geschieht jetzt mit diesen Menschen?«
    »Sie werden von hier aus nach Libyen oder sonst wohin ausgeflogen. So wie die da hinten!« Luigi wies auf eine Gruppe Männer. »Das sind die Nächsten«, fuhr Luigi fort. »Man fliegt sie aus und nächsten Monat versuchen sie es wieder. So lange, bis sie es geschafft haben oder ertrunken sind. Es ist wirklich ein Trauerspiel.«
    Julian und Adria folgten dem Taxifahrer weiter durch die Menschenmenge. Sie wurden von allen Seiten neugierig beäugt und Hunderte stumme Augenpaare verfolgten jeden ihrer Schritte. Die Atmosphäre war bedrückend, viele der Insassen saßen apathisch auf dem Boden oder schlichen wie Untote über das umzäunte Gelände. Julian versuchte sich, so gut es ging, einen Überblick zu verschaffen, aber er konnte nirgendwo in der Menge einen sechzehnjährigen Jungen entdecken. Auch Frauen sah er keine. Dabei wusste er aus dem Tagebuch, dass auch Frauen mit Kindern die gefährliche Reise nach Europa antraten.
    »Gibt es hier denn gar keine Frauen?« Adria schien den gleichen Gedanken zu haben wie er. »Ich sehe nur Männer!«
    »Die Frauen sind zusammen mit den Kindern in einem anderen Lager«, erwiderte Luigi, während sie auf das Verwaltungsgebäude zugingen. »Eine ehemalige Militärbasis am äußersten Zipfel der Insel. Wenn euer Freund nicht hier ist, versuchen wir es da.«
    »Und wohin gehen wir jetzt?«, wollte Julian wissen.
    »Wir besuchen meinen Enkel Alessandro«, sagte Luigi. Er arbeitet in der Kleiderkammer. Jeder hier muss sich bei ihm seine Sachen holen. Deshalb kennt er jedes Gesicht.«
    »Darf ich Sie mal was fragen?«, erkundigte sich Julian. »Warum tun Sie das eigentlich? Ich meine, warum helfen Sie uns?«
    »Ich kann die Leute hier gut verstehen. Als junger Mann habe ich selbst davon geträumt, nach Deutschland zu gehen. Nur um ein bisschen Geld zu verdienen. Ich wollte heiraten und mir hier auf der Insel ein Haus bauen. Mehr nicht.«
    »Leih mir mal dein Handy!«, raunte Julian Adria zu, während sie weitergingen.
    »Was hast du vor?«, fragte sie leise zurück.
    »Fotos machen! Jetzt mach schon. Beeil dich!«
    Adria zögerte, dann kramte sie ihr Handy aus ihrem Umhängebeutel. Nachdem sie es eingeschaltet hatte, gab sie es Julian: »Einfach nur draufdrücken!«
    Julian legte sofort los. Während sie Luigi hinterhertrotteten, fotografierte er die Menschentrauben, die Gebäude, die Abfallberge, einfach alles. Um nicht aufzufallen, schoss er die meisten Fotos auf gut Glück aus der Hüfte heraus, und als sie das Verwaltungsgebäude am anderen Ende des großen Platzes erreichten, war der Speicher des Handys beinahe voll.
    Luigi blieb plötzlich abrupt stehen und drehte sich um. Julian verbarg das Handy blitzschnell hinter seinem Rücken, aber Luigi schenkte ihm ohnehin keine Beachtung.
    »Madonna! Was ist mit deiner Freundin?«, rief er stattdessen aus. Im gleichen Atemzug drängte er sich an ihm vorbei.
    Julian war so mit dem Fotografieren beschäftigt gewesen, dass er Adrias Zustand gar nicht bemerkt hatte. Sie war weiß wie eine Wand.

44.
    Der voll besetzte ehemalige Fischkutter kämpfte sich durch die Wellen auf das schwarze Meer hinaus. Yoba konnte sein Glück kaum fassen. Chioke und er hatten es wirklich geschafft! Leider war es auf dem Boot fast so eng wie auf dem Laster durch die Wüste. Obwohl etliche Flüchtlinge am Strand zurückgeblieben waren und man die Vorrichtungen für die Netze abgebaut hatte, um mehr Raum zu schaffen, blieb kaum Platz zum Sitzen. Auf dem schlanken Holzboot drängten sich mehrere Dutzend
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