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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen
Autoren: Ortwin Ramadan
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verängstigte Menschen, darunter auch Frauen und Kinder. Chioke saß zwischen Yobas Beinen und presste seinen Rücken gegen ihn.
    Seitdem sie den Strand verlassen hatten, steuerte der Kapitän den tief im Wasser liegenden Kutter auf das nächtliche Meer hinaus. Der Wind ließ die Gischt hoch aufspritzen und alle an Bord waren bald nass bis auf die Haut. Nur der Kapitän und sein Bootsjunge blieben trocken. In ihrem kleinen, von einer Glühbirne beleuchteten Ruderhaus waren sie als Einzige vor Wind und Wasser geschützt.
    Zu allem Unglück nahm der Wellengang stetig zu, je weiter sie sich von der Küste entfernten, und schon bald gab es die ersten Seekranken. Sie erbrachen sich ins Boot oder über die Reling und zum ersten Mal war Yoba froh über seinen stets leeren Magen. Auch seinem Bruder schien das ständige Auf und Ab nicht besonders viel auszumachen.
    »Geht es dir gut?«, fragte Yoba ihn.
    Zu seiner Überraschung nickte Chioke heftig. Für ihn schien die Bootsfahrt bislang lediglich ein großes Abenteuer zu sein.
    Für Sunday hingegen war sie die reinste Folter. »Wie lange dauert dieser Wahnsinn denn noch?«, stöhnte er. Er hatte sich bereits mehrmals übergeben, und kaum hatte er die Worte herausgebracht, hing er erneut über der niedrigen Außenwand des Bootes.
    Babatunde legte ihm die Hand auf den Rücken. »Ich schätze, wir werden Sizilien in achtundvierzig Stunden erreichen. Bis dahin musst du durchhalten. Sieh nur, es wird bereits Tag!«
    »Babatunde hat Recht, was die Überfahrt betrifft«, meinte Maurice. Der Kameruner schien neben Chioke und dem Kapitän der Einzige auf dem Kutter zu sein, dem das Geschaukel nicht den Magen umdrehte. »Wie ich mitbekommen habe, reichen die Dieselvorräte für zwei bis drei Tage. Länger kann die Fahrt also auf keinen Fall dauern«, erklärte er zuversichtlich.
    Sunday sah ihn gequält an. »Und wenn wir die Küste bis dahin nicht erreichen?«, gab er zu bedenken. »Was ist dann?«
    Als weder Maurice noch Babatunde darauf eine Antwort wussten, übergab sich Sunday erneut.
    Der Bug des Bootes hob sich gegen das Morgenrot des Himmels und klatschte mit einem harten Schlag zurück auf die Wellen. Die aufspritzende Gischtfontäne brach sich vor der aufgehenden Sonne und ließ winzige, rot glitzernde Wassertröpfchen auf die dicht gedrängten Menschen herabregnen.
    Mit zunehmender Helligkeit verlor Yoba seine Angst vor der See. Er gewöhnte sich sogar an das ständige Auf und Ab des Bootes und die Enge an Deck. Auf der linken Seite konnte er im Rosa des Morgenlichts die tunesische Küste ausmachen.Chioke hielt seine Hand über die Holzreling und jedes Mal, wenn seine Finger das vorbeirauschende Meer berührten, jauchzte er vor Glück. So verging beinahe der gesamte Tag. Wie die meisten an Bord versuchten auch Babatunde, Sunday und Maurice die Zeit totzuschlagen, indem sie in der prallen Sonne dösten. Yoba hingegen konnte sich am Meer einfach nicht sattsehen. Er verspürte eine atemberaubende Freiheit, denn jede Seemeile brachte ihn seinem großen Traum ein Stückchen näher.
    Gegen Mittag erschien am Horizont ein graues Schiff. Wahrscheinlich die tunesische Küstenwache, lautete die einhellige Meinung an Deck. Aber ebenso wie die auslaufenden Fischer, denen sie den ganzen Morgen über begegnet waren, schien sich auch die tunesische Küstenwache nicht sonderlich für ihr Boot zu interessieren. Das Schiff drehte ab und stob mit einer imposanten Bugwelle davon. Ihre Fahrt ging ungehindert weiter.
    Am nächsten Morgen verschlechterte sich das Wetter merklich. Der Wind wehte kräftiger, die Wellen wurden höher und die morschen Planken des ausrangierten Fischerbootes knackten vernehmlich.
    »Wisst ihr, was mir Sorgen macht?« Babatunde ließ die von der Gischt umschäumte Reling keine Sekunde mehr los.
    »Ach, du hast Sorgen?«, meinte Maurice sarkastisch. »Ich vermute mal, da bist du nicht der Einzige hier.«
    Babatunde ließ sich nicht beirren. »Ich meine es ernst. Merkt ihr das nicht? Die Wellen werden immer höher!«
    »Das ist normal!«, winkte Maurice ab. »Je weiter man vom Land weg ist, desto mehr Wind und Wellen gibt es. Das ist nichts Besonderes.«
    Sein gezwungenes Grinsen verriet, dass er wohl selbst nicht so recht an seine eigenen Worte glaubte.
    »Ich finde auch, da stimmt was nicht!«, rief Sunday gegen den zunehmenden Wind an. »Seht doch! Der Kapitän pafft eine Zigarette nach der anderen. Der ist nervös!«
    Wie zur Bestätigung verließ der Bootsjunge das
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