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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen
Autoren: Ortwin Ramadan
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hübsch hier«, versuchte Adria das Schweigen zu brechen, während das Taxi den alten Hafen von Lampedusa verließ und durch die charmanten Gassen der Altstadt steuerte. In diesem Moment donnerte ein Airbus über ihre Köpfe hinweg und landete hinter den würfelförmigen, hell getünchten Häusern. Der Flughafen der Insel musste in unmittelbarer Nähe zur Stadt liegen.
    Als der nachlassende Turbinenkrach wieder eine Unterhaltung zuließ, unternahm Adria einen erneuten Anlauf.
    »Man sieht ja fast nur Polizisten in den Cafés«, stellte sie fest. »Ist das nicht schlecht für das Touristengeschäft?«
    Offenbar hatte Adria einen wunden Punkt getroffen, denn jetzt kam Luigi richtig in Fahrt: »Schlecht für das Geschäft? Ich verrate dir etwas: Hier gibt es kein Geschäft mehr. Es ist tot!«
    Luigi starrte grimmig nach vorn. Ein weißer Lieferwagen versperrte ihnen den Weg. »Früher war Lampedusa ein Touristenparadies – heute sind wir ein einziger riesiger Käfig! Und wer macht schon freiwillig Urlaub in einem Gefängnis?« Er hupte den Lieferwagen wütend an. »Eine Schande ist das! Dieses Lager ist wie ein Krebsgeschwür!«
    Plötzlich drehte er sich während der Fahrt abrupt zu Adria und Julian um: »Was habt ihr eigentlich bei den Illegalen verloren?«, fragte er misstrauisch. »Ihr seid zu jung, um Reporter zu sein.«
    »Wir wollen nur jemandem etwas zurückgeben.« Adria stupste Julian an. »Los, zeig ihm das Buch!«
    Julian zog das kleine Tagebuch aus der Tasche seiner Shorts hervor und hielt es in die Höhe.
    Luigi schielte über seine rechte Schulter. »Und was ist das für ein Buch?«
    Adria erzählte ihm auf Italienisch von den toten Afrikanern am Hotelstrand, wie Julian das Tagebuch gefunden hatte und wie sie gemeinsam beschlossen hatten es seinem Besitzer zurückzubringen. Sie schilderte ihm auch ihren Besuch im Leichenschauhaus. Luigi hörte aufmerksam zu, bis er plötzlich den Wagen an den Straßenrand lenkte und bei laufendem Motor anhielt.
    Er drehte sich erneut zu seinen Fahrgästen um. »Zeigt mal her!«
    Adria reichte ihm das Buch nach vorne und Luigi blätterte neugierig darin herum. Währenddessen sah Julian aus dem Taxifenster. Sie hatten die malerische Hafenstadt inzwischen verlassen und auf beiden Seiten der Straße entfaltete sich eine Insellandschaft von karger Schönheit. Wild wachsende Blumen und Kräuter, gelbe Margeriten und rosa Malven, so weit das Auge reichte. An den Hängen der Hügel grasten Ziegen an dornigen Sträuchern. Eine mediterrane Idylle.
    »Das ist verrückt«, sagte Luigi auf Deutsch und zupfte sich am Ohrläppchen. Dann lächelte er verschmitzt: »Wisst ihr was? Ich mag verrückte Sachen! Ich werde euch helfen!«
    Er reichte das Buch wieder nach hinten.
    »Sie können uns in das Lager bringen?« Julians Herz schlug schneller. »Ein Journalist auf der Fähre hat uns erzählt, sie lassen keinen rein.«
    »Journalisten sind Journalisten.« Luigi zwinkerte in den Rückspiegel und lenkte den Wagen zurück auf die Straße. »Lasst das mal meine Sorge sein! Wir sind hier auf meiner Insel. Wir halten zusammen. Egal was die in Rom sagen.«
    Das mit einem hohen Zaun gesicherte Flüchtlingslager lag nur einen Steinwurf vom Flugplatz der Insel entfernt. Die asphaltierteRollbahn verlief unmittelbar dahinter. Als sie auf das grüne Tor am Ende der Sackgasse zufuhren, konnte Julian durch das Taxifenster das Kerosin in der Luft riechen. Es roch wie auf einer Tankstelle für Düsenjets. Auch den wilden Blumen entlang der Straße schien die giftige Luft nicht zu bekommen. Sie ließen allesamt die Köpfe hängen.
    Luigi stellte das Taxi auf dem Parkplatz vor dem Tor ab. »So, da wären wir. Kommt mit!«, sagte er und stieg aus.
    Kaum waren Adria und Julian aus dem Taxi geklettert, donnerte ein weiterer Airbus über ihre Köpfe hinweg und landete mit quietschenden Reifen auf der nahen Rollbahn. Die Erde unter ihren Füßen vibrierte wie bei einem Erdbeben und das Heulen der Triebwerke ging ihnen durch Mark und Bein.
    »Mal sehen, ob wir euren Bücherschreiber finden!«, schrie Luigi gegen den Turbinenlärm an und bedeutete Adria und Julian ihm zu folgen. Als sie das Tor erreichten, kam ihnen ein leicht angegrauter Carabinieri mit ausgebreiteten Armen entgegen. Seinen Rangabzeichen nach musste er ein hoher Offizier sein.
    »Luigi!«, rief er erfreut. »Welch eine Ehre! Wie geht es Maria?«
    »Bestens, Schwager, bestens!« Der Taxifahrer tätschelte seinen runden Bauch. »Sie ist noch
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