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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen
Autoren: Ortwin Ramadan
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ausgestiegen, die sich nun lautstark in den Streit einmischten.
    Yoba verdrehte die Augen. »Abgesehen davon ertrage ich das alles nicht mehr! Der ganze Gestank und Lärm, der Sand, das ewige Kämpfen. Ich habe die Nase voll!«
    »Kämpfen muss man überall«, entgegnete Anthony. »Glaub mir, da kenne ich mich aus.« Er klang resigniert.
    »Aber es gibt Orte, da bekommt man wenigstens eine Chance!«, hielt Yoba trotzig dagegen.
    Er gab seinem Bruder einen Stups. Chioke stand ebenfalls auf und trottete wie eine leblose Puppe hinter ihm her.
    Jeder wusste, wo Big Eagle wohnte. Er kontrollierte das gesamte Gebiet von der Market Road bis hinauf zum Bahnhof. Drogen, Prostitution oder gefälschte Medikamente – Big E und seine Bruderschaft, die Black Eagles, hielten die Fäden fest in der Hand. Darüber hinaus kontrollierten sie auch die legalen Geschäfte. Alle Geschäftsleute, ganz gleich ob Firmenchef, Ladenbesitzer oder einfache Marktfrau, mussten für ihren »persönlichen Schutz« einen gewissen Anteil von ihrem Umsatz an die Bruderschaft abführen. Die einzige Ausnahme bildeten die Autofahrer und Taxiunternehmer. Ihr Schutzgeld wanderte in die Taschen der schlecht bezahlten Polizei.
    Die Mittagshitze lastete schwer auf den Brüdern, als sie in die ruhige Sackgasse einbogen, an deren Ende sich Big Eagles zweistöckige Villa befand. Sie war von einer weiß getünchtenMauer umgeben, deren Krone mit Stacheldraht und einbetonierten, farbigen Glasscherben bestückt war.
    Die Zufahrt wurde von zwei bewaffneten Gangmitgliedern mit verspiegelten Sonnenbrillen bewacht. Sie fläzten sich im Schatten einer Akazie auf zwei Plastikstühlen und lauschten gebannt einer Fußballübertragung, die aus einem Transistorradio plärrte.
    »Was wollt ihr hier?«, fragte einer der beiden Wächter ungeduldig. Die beiden jungen Männer trugen Goldketten, und ihre weit ausgeschnittenen Muskelshirts boten einen freien Ausblick auf ihre hantelgestählten Oberarme samt dem Gangzeichen: fünf absichtlich herbeigeführte Narben, die sich deutlich von der schwarzen Haut abhoben und die Flügel eines Adlers symbolisieren sollten. Das war das Zeichen der Black Eagles.
    Yoba bemühte sich möglichst lässig zu wirken. Er deutete auf sich und Chioke. »Big E will uns sehen. Also lasst uns gefälligst durch!«
    Der Gangster musterte die beiden Straßenjungen und balancierte dabei seine Kalaschnikow gelangweilt in den Händen. »Habt ihr Geld?«
    »Lass die Jungs in Ruhe«, meinte sein Kumpel beiläufig, während er das Fußballspiel im Radio verfolgte. »Die haben nichts.«
    »Kommt her!« Der Wächter mit dem Maschinengewehr winkte die Brüder zu sich in den Schatten. Als Yoba und Chioke vor ihm standen, tastete er sie ab. Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf.
    »Na, wer sagt’s denn!« Mit einem breiten Grinsen zog er Chioke den Lohn fürs Autowaschen aus der Hosentasche. »Sogar richtige Dollars!«
    Chi-Chis Mund klappte auf. Er wollte protestieren, aber Yoba hielt ihn zurück. Dann war er selbst an der Reihe. Schnell hatte der Gangster das Notizbüchlein in seinem Hosenbund gefunden. Die Dollarscheine in seiner Unterhose hingegen entgingen seinen gierigen Händen.
    »Wo ist dein Geld?«, wollte der Gangster wissen. Er nickte in Chiokes Richtung. »Wenn er welches hat, musst du auch welches haben. Du siehst kräftiger aus als er. Also?«
    »Ich hab meins schon ausgegeben!«, log Yoba. »Fürs Essen.«
    »Und was ist das?« Der Gangster blätterte durch die unbeschriebenen Seiten des Notizbuches. Außer dem zusammengefalteten Zettel mit dem Wohnort von Onkel Abeche entdeckte er nichts. Enttäuscht warf er Buch und Zettel auf die Straße. Chiokes Dollarscheine steckte er ein. Dann stieß er einen Pfiff aus, woraufhin ein weiteres bewaffnetes Gangmitglied auftauchte. Der Mann musste auf der anderen Seite der Mauer gewartet haben. Nachdem Yoba sein Büchlein und den Zettel hastig aufgeklaubt hatte, führte der dritte Gangster ihn und Chioke durch den Garten zur Villa.

5.
    Der Kies des Weges knirschte unter Yobas ausgetretenen Plastikschlappen. Der Geruch im Garten verschlug ihm den Atem. Überall blühten Blumen und bunte Sträucher und auf den haushohen Palmen zwitscherten Vögel. Eine Oase der Ruhe inmitten der rastlosen, stinkenden Großstadt. Selbst die Hitze und der beißende Sand in der Luft schienen vor der mit Glasscherben und Stacheldraht bewehrten Mauer haltzumachen. Yoba fühlte sich wie ein König. Nur wenige hatten Zugang zu diesem
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