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Der Schoepfer

Der Schoepfer

Titel: Der Schoepfer
Autoren: Gudrún Eva Mínervudóttir
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entspannt, je nachdem, wie stark seine Übertreibungen oder wie
ehrlich seine Geständnisse waren. An einigem, was er gesagt hatte, war ein Fünkchen Wahrheit, aber anderes war völlig absurd. Er musste vor Erleichterung lachen, als er feststellte, dass sein Leben nicht so miserabel war, seine Schuld nicht so groß und seine Verantwortung nicht so allumfassend, wie er vorgegeben hatte.
    Die Erleichterung spürte er ebenso körperlich wie geistig – alles vibrierte vor Leben und Schmerz und weckte Erinnerungen daran, wie es sich anfühlte, dicht neben einem anderen Menschen zu liegen, der Mutter, der Geliebten. Ihre Rippen an der Wange zu spüren und ihr Herz zu hören. Feuchter Atem auf der Haut, lebhafte Augen, ihre Stimme, überraschende oder vorhersehbare Worte. Ja, und die Lippen an ihre Herzschlagader zu legen und ihren Puls zu spüren.
    Plötzlich nahm eine Entschlossenheit von ihm Besitz, die er lange nicht mehr gespürt hatte. Wobei er sich nie darüber klar gewesen war, ob es ein Zeichen von Weisheit oder völliger Dummheit war, nicht in Angst zu leben – angesichts dieses unberechenbaren Lebens, durch das die Menschen sich die meiste Zeit quälten.
    Sveinn schloss die Augen, seine Lungen füllten sich mit Luft und stießen sie mit einem Seufzen wieder aus, das tief in die Erde drang, und unzählige winzige Blitze fuhren aus der klaren Luft in seinen tauben Finger. Es war kein taubes Kribbeln, sondern mehr so wie jenes, das Pinocchio gespürt haben musste, als seine hölzernen Glieder zu Fleisch wurden.
    Sveinn biss sich leicht auf den Finger und spürte den Druck, die Wärme und Nässe in seinem Mund. Er schwenkte den zum Leben erwachten Finger, lachte leise und versuchte, im Dunst am Horizont auszumachen, wo das Meer auf den Himmel traf, obwohl beides unendlich blau war.

XXII
Donnerstag & Freitag
    Der Berg Akrafjall, das Gras, die Zaunpfähle. Lóa steckte in einem sich ständig wiederholenden Alptraum. Fuhr schon wieder dieselbe Strecke, mit einem galligen Geschmack im Mund und dem Gefühl, vom Leben, vom Unglück und von ihren eigenen Fehlern gejagt zu werden.
    Der Tunnel erwartete sie mit seinem starrenden Schlund. Sie wollte nicht in dieses schwarze Loch hineinfahren. In die Dunkelheit unter dem Meer. Etwas in ihr schrie, dass sie nicht dort hineinfahren sollte. Instinktiv drosselte sie das Tempo.
    Sie fuhr an den Straßenrand und bremste scharf. Der Fahrer hinter ihr schaffte es gerade noch abzuschwenken und hupte, bis er an der Zollschranke am Eingang des Tunnels stehen blieb.
    Wie konnte sie so geistesabwesend sein, wenn so viel auf dem Spiel stand? Wie konnte es sein, dass sie hörte, was man zu ihr sagte, die Worte verstand, aber ihre Bedeutung nicht? Die Reifen quietschten, als sie mitten auf der Nationalstraße wendete und wieder Richtung Akranes raste. Auf das helle Gebäude am Meer zu.
    Die Heimleiterin stand in ihrem Büro und zog gerade einen grauen Wollmantel an. Als Lóa in der Türöffnung erschien, schaute sie verwundert auf.

    »Wer hat den Schlüssel?«, fragte Lóa. »Haben Sie den Schlüssel? «
    »Welchen Schlüssel?«
     
    Die Angst hatte Lóa fest im Griff, als die Tür des Altenheims hinter ihr zufiel. Sie trat ins Freie mit einem Schlüsselbund mit drei Schlüsseln und einem winzigen Portrait der heiligen Therese von Lisieux.
    Jetzt, wo sie einen Verdacht über Margréts Aufenthaltsort hatte, sammelte sich die Panik zu einer brodelnden Kugel in ihrem Bauch. Sie hatte Angst, Margrét aus ihrem Versteck ins Ungewisse zu treiben. Oder sich zu irren, womit sich der letzte Strohhalm in Staub auflösen würde. Sie fürchtete, Margréts Verschwinden wäre eine Strafe der Götter, weil sie Marta nicht nur enttäuscht, sondern ihr Unglück sogar noch verstärkt hatte.
    Lóas Gedanken wirbelten wie Kristalle in ihrem Kopf. Die scharfen Kanten verletzten sie, und das Handyklingeln in ihrer Tasche stachelte sie an, so dass Lóa meinte, es könnte jeden Moment aus ihren Augen und Ohren bluten.
    Ihr Exmann meldete sich am Telefon. »Ína will nach Hause«, sagte er. »Sie heult schon seit einer Stunde. Traust du dir zu, sie …?«
    »Natürlich«, antwortete Lóa. »Björg ist zu Hause. Ich sage ihr Bescheid, dass ihr unterwegs seid.«
     
    Lóas Körper war von einem dröhnenden Herzschlag erfüllt, als sie den Wagen in der Ránargata parkte und an Martas Haus hinaufschaute. Es war ein Holzhaus mit Betonverkleidung, rot mit schwarzem Dach. Die Wohnung befand sich im Erdgeschoss, die
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