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Der Schneider

Der Schneider

Titel: Der Schneider
Autoren: Carre
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verstorbene Mutter hatte an einer der konfessionsgebundenen Schulen in der Zone als liberale Religionslehrerin gewirkt.
    »Lou, du weißt doch, was man sagt«, antwortete Pendel; er zog ein Ohrläppchen hoch und schabte die Stoppeln darunter ab. Er rasierte sich, wie andere Leute Bilder malen, er liebte seine Tuben und Pinsel. »Panama ist kein Land, sondern ein Kasino. Und wir kennen die Kerle, die es führen. Du arbeitest schließlich für einen von denen.«
    Er hatte es wieder getan. Wenn er ein schlechtes Gewissen hatte, war er ebenso charakterschwach wie Louisa, wenn es ums Aufstehen ging.
    »Nein, Harry, das ist nicht wahr. Ich arbeite für Ernesto Delgado, und Ernesto ist nicht einer von denen . Ernesto ist ein anständiger Mensch, er hat Ideale, er kämpft für Panamas Zukunft als freies und souveränes Mitglied im Kreis der Nationen. Im Gegensatz zu denen ist er nicht auf Beute aus, er will nicht das Erbe seines Landes verschachern. Und deshalb ist er etwas Besonderes, ein sehr, sehr ungewöhnlicher Mensch.«
    Heimlich beschämt, drehte Pendel die Dusche an und prüfte mit einer Hand das Wasser.
    »Der Druck ist mal wieder weg«, sagte er munter. »Das haben wir davon, daß wir auf einem Hügel wohnen.«
    Louisa stieg aus dem Bett und zerrte sich das Nachthemd über den Kopf. Sie war groß und schmalhüftig, hatte langes, widerspenstiges Haar und die hoch angesetzten Brüste einer Sportlerin. Wenn sie sich einmal vergaß, war sie eine Schönheit. Aber sobald sie sich ihrer selbst wieder bewußt wurde, ließ sie die Schultern hängen und machte ein mürrisches Gesicht.
    »Ein einziger guter Mann, Harry«, fuhr sie fort, während sie ihr Haar in die Duschhaube stopfte. »Mehr ist gar nicht nötig, um dieses Land in Schwung zu bringen. Ein einziger guter Mann von Ernestos Kaliber. Wir brauchen keine Redner mehr, keine Egomanen, sondern bloß einen einzigen moralisch handelnden Christen. Einen einzigen anständigen, fähigen Verwalter, der nicht korrupt ist, der Straßen und Kanalisation erneuert, der etwas gegen Armut und Verbrechen und Drogenhandel unternimmt und den Kanal instandhält und nicht an den Meistbietenden verhökert. Ernesto möchte aufrichtig dieser Mann sein. Es steht dir nicht zu, es steht niemandem zu, schlecht von ihm zu reden.«
    Rasch, aber mit der ihm eigenen Sorgfalt, zog Pendel sich an und eilte in die Küche. Die Pendels hatten zwar wie alle anderen gutbürgerlichen Bewohner Panamas mehrere Dienstboten, aber das Frühstück mußte nach strenger alter Sitte vom Oberhaupt der Familie zubereitet werden. Pochiertes Ei auf Toast für Mark, Bagel mit Rahmkäse für Hannah. Dazu sang Pendel gutgelaunt Stellen aus dem Mikado , denn er liebte die Musik. Mark saß schon angezogen am Küchentisch und machte seine Hausaufgaben. Hannah mußte aus dem Bad gelockt werden, wo sie besorgt einen Makel an ihrer Nase untersuchte.
    Dann Hals über Kopf gegenseitige Vorwürfe und Abschiedsrufe, als Louisa angekleidet, aber reichlich spät zur Arbeit bei der Panamakanal-Kommission aufbricht und zu ihrem Peugeot rennt, während Pendel und die Kinder in den Toyota steigen und die Hetzjagd zur Schule antreten, links, rechts, links den steilen Hang zur Hauptstraße hinunter, wobei Hannah ihr Bagel verspeist und Mark in dem holpernden Geländewagen mit den Hausaufgaben kämpft und Pendel sich wegen der Hektik entschuldigt, aber Kinder, ich habe einen frühen Termin mit den Jungs von der Bank, und insgeheim wünscht, er hätte sich seine abfälligen Bemerkungen über Delgado verkneifen können.
    Dann ein Spurt auf der falschen Fahrspur, zu verdanken dem morgendlichen operativo , der den stadteinwärts fahrenden Pendlern die Benutzung beider Spuren erlaubt. Dann in lebensgefährlichem Gekurve durch aggressiven Verkehr in engere Straßen hinein, vorbei an amerikanisch anmutenden Häusern, die ihrem eigenen sehr ähnlich sehen, und hinein in das aus Glas und Plastik gebaute Dorf mit seinen Charlie Pops und McDonald’s und Kentucky Fried Chickens und dem Rummelplatz, wo Mark sich am vorigen 4. Juli nach der Attacke eines feindlichen Autoskooters den Arm gebrochen hatte – und als sie ins Krankenhaus gekommen waren, hatte es dort von Kindern mit Brandwunden von Feuerwerkskörpern gewimmelt.
    Dann ein Pandämonium, als Pendel nach einem Vierteldollar für den schwarzen Jungen sucht, der an einer Ampel Rosen verkauft, dann wildes Winken aller drei, als sie den alten Mann passieren, der seit sechs Monaten an derselben
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