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Der Schnee war schmutzig

Der Schnee war schmutzig

Titel: Der Schnee war schmutzig
Autoren: Georges Simenon
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schulden? Befürchtet er, Frank habe nicht ganz begriffen? Zweifelt er noch?
    Seine Hand liegt mit einem leichten Druck auf der Schulter. Er sagt mit einer zugleich feierlichen und nüchternen Stimme:
    »Ich hatte einen Sohn, einen Jungen. Er war etwas älter als Sie und hatte den Ehrgeiz, ein großer Arzt zu werden. Die Medizin interessierte ihn leidenschaftlich, und es gab nichts anderes für ihn. Als ich kein Geld mehr hatte, beschloß er, sein Studium um jeden Preis fortzusetzen.
    Eines Tages waren kostbare Stoffe, Quecksilber und Platin, aus dem physikalischen Laboratorium verschwunden. Dann wurden in der Universität kleine Diebstähle festgestellt. Schließlich hat ein Student, der in die Garderobe hereingestürzt kam, meinen Sohn beim Stehlen einer Brieftasche ertappt.
    Er war einundzwanzig Jahre alt. Als man ihn in das Arbeitszimmer des Rektors führte, ist er aus einem Fenster im zweiten Stock gesprungen …«
    Der Druck der Hand ist noch stärker geworden.
    Frank würde ihm gern etwas sagen, vor allem eins möchte er ihm sagen, aber es ist sinnlos, und es könnte falsch ausgelegt werden: wie gern wäre er Hoists Sohn gewesen! Wie gern würde er Hoists Sohn sein! Er wäre so glücklich – und es würde ihn von einer schweren Last befreien –, wenn er das Wort aussprechen dürfte: Vater.
    Sissy darf es. Sie läßt ihn nicht aus den Augen. Er könnte nicht sagen, wie er es bei Minna gekonnt hat, ob sie dünner oder blasser geworden ist. Aber das ist auch belanglos. Sie ist gekommen. Sie hat kommen wollen, und Holst war damit einverstanden. Holst hat sie bei der Hand genommen und sie zu Frank geführt.
    »Ja, so ist das«, schließt Holst. »Das Leben des Menschen ist schwer.«
    Es ist, als lächelte er bei diesen Worten ein wenig, wie wenn er sich entschuldigen wollte.
    »Sissy spricht den ganzen Tag mit Herrn Wimmer von Ihnen. Ich habe in einem Büro Arbeit gefunden, aber ich komme immer früh nach Hause.«
    Er blickt zum Fenster hinaus, damit die beiden sich ungestört ansehen können.
    Es gibt keine Ringe, keinen Schlüssel, auch keine Gebete, aber Hoists Worte ersetzen sie.
    Sissy ist da. Holst ist da.
    Sie dürfen nicht zu lange bleiben, denn Frank könnte es vielleicht nicht ertragen. Er hat nur das. Er wird nur das gehabt haben. Es ist alles, was ihm gehört. Er hat vorher nichts gehabt, und er wird nachher nichts haben.
    Das ist seine Hochzeit, seine Flitterwochen, sein Leben. Er muß das alles auf einmal erleben, ganz konzentriert, in Anwesenheit des Chefs, der in seinen Zetteln kramt.
    Sie werden kein Fenster haben, das sich öffnet, keine Wäsche, die man zum Trocknen aufhängt, keine Wiege. Nicht auf die Dauer kommt es an, sondern, daß man es einmal hat.
    »Sissy …«
    Er weiß nicht, ob er ihren Namen geflüstert oder nur gedacht hat. Seine Lippen haben sich bewegt. Er kann sie nicht daran hindern, sich zu bewegen. Auch seine Hände bewegen sich, tasten sich vor, aber er hält mit der Bewegung immer wieder rechtzeitig inne. Sissys Hände tun das gleiche. Doch ihre Finger umklammern die Handtasche, und sie bezwingt damit ihre Hände.
    Auch für sie und für Holst darf es nicht zu lange währen.
    »Wir werden versuchen, wiederzukommen«, sagte Holst.
    Frank lächelt, wobei er Sissy immer noch ansieht. Er nickt, obwohl er weiß, daß es nicht stimmt, wie auch Holst es weiß und wie es auch gewiß Sissy weiß.
    »Ja, Sie werden wiederkommen.«
    Das ist alles. Seine Augen tun ihm unerträglich weh. Er hat Angst, ohnmächtig zu werden. Seit gestern hat er nichts mehr gegessen. Fast eine ganze Woche lang hat er kaum geschlafen.
    Holst geht zu seiner Tochter und faßt sie unter. Dann sagt er: »Mut, Frank.«
    Sissy bleibt stumm. Sie läßt sich von ihrem Vater hinausführen, wobei sie den Kopf weiter Frank zuwendet und ihre Augen in einem Ausdruck, den er nie in Menschenaugen gesehen hat, auf ihm ruhen läßt.
    Sie haben sich nicht berührt, nicht einmal mit den Fingern. Es war nicht notwendig …
    Nun sind die beiden gegangen. Er sieht sie noch durch das Fenster auf dem weißen Hof. Und Sissys Gesicht ist ihm immer noch zugekehrt.
    Schnell. Er wird sonst schreien. Es ist zuviel. Schnell!
    Er kann nicht mehr stillstehen. Er geht auf den Chef zu, öffnet den Mund, er wird gleich um sich schlagen und heftige Worte sagen. Aber es kommt kein Laut aus seiner Kehle, und er steht wie erstarrt da.
    Sie ist gekommen. Sie ist immer noch da. Sie ist in ihm. Sie gehört ihm. Holst hat ihn und sie gesegnet.
    Was
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