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Der Schnee war schmutzig

Der Schnee war schmutzig

Titel: Der Schnee war schmutzig
Autoren: Georges Simenon
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Bettrand sitzen. Er wird sich nicht einmal hinlegen, weil es dann nur noch schlimmer wäre. Er darf aber auch nicht schreien, wenn er das Fenster betrachtet.
    Er wird nicht verrückt. Jetzt gerade nicht. Allmählich wird er seine Kaltblütigkeit zurückgewinnen. Daß dies geschehen ist, bedeutet, daß es fast zu Ende ist.
    Das hat er immer begriffen. Es ist eine jener Gewißheiten, die man nicht zu erklären versucht. Er hätte sowieso nicht mehr die Kraft gehabt, noch lange durchzuhalten.
    Holst hat begriffen! Und Sissy?
    Hat auch sie immer gewußt, daß es so kommen würde? Frank hat es gewußt. Holst hat es gewußt. Es ist furchtbar zu sagen und hört sich wie eine Blasphemie an. Aber es ist die Wahrheit.
    Holst hätte am Sonntag in der Nacht oder am nächsten Morgen kommen und ihn töten können, aber er hat es nicht getan.
    Es mußte so kommen. Frank konnte nichts anderes tun. Er wußte noch nicht, warum, aber er fühlte es.
    Daß er keine Angst vor der Folter, vor dem Offizier mit dem Lineal oder dem Chef und seinen Helfern hatte, das hat darin seinen Grund, daß ihm niemand je solche Schmerzen zufügen kann, wie er sie sich selber zugefügt hat, als er Kromer in das Zimmer schob. Wird der Chef die Erlaubnis erteilen?
    Man muß ihm unbedingt etwas sagen, damit er glaubt, es führe zu etwas. Frank brennt vor Ungeduld darauf, daß man ihn holt. Er wird nichts versprechen, weil das ungeschickt wäre, aber er wird zu verstehen geben, daß er danach mehr aussagen wird. Man soll ihn nur schnell holen.
    Er wird etwas zugeben, er wird heute eine ganze Menge zugeben. Hinsichtlich Kromers zum Beispiel, denn das hat jetzt keine Bedeutung mehr, da er in Sicherheit ist.
    Im Grunde weiß er nicht, wen er lieber sprechen möchte, Holst oder Sissy. Sissy hat er eigentlich nichts zu sagen. Er muß sie nur ansehen. Und sie soll ihn ansehen.
    »Sagen Sie, Herr Holst …«
    »Wie haben Sie entdeckt, Herr Holst, daß der Mensch, wer immer es sei …«
    Ihm fehlen die Worte. Keines drückt aus, was er sagen möchte.
    Man kann Straßenbahnfahrer sein, nicht wahr? Oder irgend etwas anderes. Man kann Stiefel tragen, nach denen sich die Kinder auf der Straße umsehen, und über die naseweisen Gören die Schultern zucken. Man kann … Ich verstehe, was Sie sagen wollen … Auf all das kommt es nicht an … Es genügt, das zu vollbringen, was man vollbringen muß, weil alles gleich wichtig ist … Aber ich, Herr Holst, wie hätte ich das gekonnt?
    Es ist unmöglich, daß Holst für Sissy eine Besuchserlaubnis beantragt hat. Frank beginnt daran zu zweifeln. Vielleicht ist es eine Finte des Chefs. Aber wenn es so wäre, mit welchem Haß würde Frank ihn dann bis in die Hölle verfolgen!
    Holst, der nie etwas mit der Besatzungsmacht hat zu tun haben wollen, der bestimmt unter ihr gelitten hat, soll sich, wie der Chef gesagt hat, an eine sehr hohe Instanz gewandt haben. Dafür hätte er sich mehrerer Mittelsmänner bedienen, sich kompromittieren, sich vor den Leuten demütigen müssen.
    Man holt Frank nicht. Es dauert lange. Er kann nicht schlafen. Er will nicht schlafen. Er möchte mit dieser Frage fertig werden, sofort fertig werden.
    Dennoch hat er sich hingelegt. Er weiß nicht mehr, ob er den Napf mit der Suppe auf den Boden gestellt hat. Wenn er ihn umkippt, wird es die ganze Nacht stinken. Das ist ihm einmal passiert.
    Er möchte weinen. Er wird Holst nicht sagen, daß er geweint hat. Niemandem. Niemand sieht ihn. Er streckt einen Arm aus, als wäre jemand bei ihm, als ob das überhaupt noch sein könnte. Es hätte sein können, aber dann hätte alles ganz anders sein müssen.
    Er nimmt es nicht hin, daß sein Vater der Kommissar Kurt Hamling ist.
    Warum denkt er daran?
    Er denkt an nichts. Er weint wie ein kleines Kind. Er ist schläfrig. In solchen Fällen steckte ihm seine Pflegemutter einen Lutscher in den Mund. Dann schnüffelte er noch ein bißchen und beruhigte sich.
    Sehr lange wird es nicht mehr dauern. Aber auf die Zeit kommt es auch nicht an. Wie alt ist die Frau am Fenster? Zweiundzwanzig? Fünfundzwanzig? Wo wird sie in zehn Jahren sein? In fünf Jahren? Vielleicht wird ihr Mann dann schon tot sein. Vielleicht ist er bereits tot. Vielleicht steckt in ihrem Körper der Keim irgendwelcher Krankheit, die sie dahinraffen wird.
    Was wird Holst ihm sagen? Wie wird er sich verhalten?
    Sissy wird schweigen. Das weiß er. Oder sie wird nur sagen: »Frank.«
    Der Chef wird dabeisein. Das ist belanglos. Ihm ist heiß. Vielleicht hat
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