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Der Schnee war schmutzig

Der Schnee war schmutzig

Titel: Der Schnee war schmutzig
Autoren: Georges Simenon
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Freudensprung, aber sein Gesicht ist wie verklärt. Jetzt ist er es, der wie Minna Tränen in den Augen hat. Er wagt jedoch nicht, daran zu glauben. Es wäre zu schön. Es würde bedeuten, daß er sich nicht täuscht. Es würde bedeuten …
    »Hat er darum gebeten, mich zu sehen?«
    »Einen Augenblick … Nein …«
    Er erstarrt. Der Chef muß doch ein Sadist sein.
    »Es ist nicht ganz so. Ein gewisser Gerhard Holst hat bei der vorgesetzten Dienststelle eine Besuchserlaubnis beantragt. Er hat sich an eine sehr hohe Instanz gewandt. Aber es ist nicht für ihn.«
    Schnell, mein Gott! Und Lotte hört zu, als säße sie am Rundfunk.
    »Es ist für seine Tochter.«
    Nein, nein, nein! Er darf nicht weinen. Er darf alles tun, nur nicht weinen. Sonst besteht die Gefahr, daß er sich alles verdirbt. Es ist nicht wahr! Es ist nicht möglich! Der Chef wird einen anderen Zettel herausgreifen und erkennen, daß er sich geirrt hat.
    »Siehst du, Frank«, sagt Lotte bewegt, töricht bewegt, als ob sie im Rundfunk eine sentimentale Platte hörte, »siehst du, alle haben Vertrauen zu dir. Ich habe dir ja gesagt, du kommst hier heraus, und darum mußt du auf die Herren hören.«
    Du arme Irre! Er kann ihr nicht einmal grollen. Es ist besser, wenn sie gar nicht erkennt, wie tief der Abgrund zwischen ihnen ist.
    Mit der Miene einer frommen Frau, die sich an einen Bischof wendet, fragt Lotte: »Haben Sie die Erlaubnis gewährt, mein Herr?«
    »Noch nicht. Der Antrag ist mir eben von einer anderen Dienststelle übermittelt worden. Ich habe noch nicht die Zeit gehabt, ihn zu prüfen.«
    »Ich glaube, Sie würden ihr damit eine ganz große Freude machen. Sie ist unsere Flurnachbarin. Sie kennen sich schon seit Jahren.«
    Es ist nicht wahr. Sie soll doch still sein. Oder kommt es schon gar nicht mehr darauf an, was sie sagt? Selbst wenn es jetzt nicht klappen sollte und sie nicht kommen dürfte, die Tatsache bliebe bestehen, daß Holst den Besuch beantragt hat. Sie haben sich verstanden. Frank hat recht gehabt. Holst soll kommen. Es wird zwar nicht ganz das gleiche sein, aber er wird dieselbe Bedeutung haben.
    Daß sie mit dem Verhör endlich Schluß machen, lieber Gott! Daß man ihm die Gnade erweist, ihm an diesem Morgen keine Fragen mehr zu stellen, ihn wieder in sein Zimmer hinaufgehen läßt. Ach, ›mein Zimmer‹ hat er ganz einfach gedacht. Daß er sich mit dieser noch ganz frischen Wahrheit auf sein Bett werfen und sie an sich pressen kann, damit sie sich nicht verflüchtigt.
    »Es ist ein untadeliges junges Mädchen, ein richtiges junges Mädchen, glauben Sie mir.«
    Wie soll man so einer Dummen böse sein, selbst wenn es seine Mutter ist. Und die andere mit ihrem falschen Kusinengesicht, die davon profitiert, daß die Männer stehen und sich ihr nähern, um sie unbemerkt zu berühren.
    »Ich dachte«, sagt der Chef, »Sie hätten eben darum gebeten, Gerhard Holst zu sehen.«
    »Ihn oder sie.«
    »Ist Ihnen nicht einer von beiden lieber?«
    Daß er jetzt nur nicht eine Dummheit begeht!
    »Nein.«
    Ein Blick aus den Augen hinter der Brille hat genügt, um einem der schnurrbärtigen Ministranten zu bedeuten, daß es Zeit ist, ihn wieder hinaufzubringen. Er weiß nicht mehr, wie er aus dem Büro herausgekommen ist. Seine Mutter und Minna sind noch dort geblieben. Was wird Lotte noch über Sissy erzählen?
    Gleich nachdem er in seinem Zimmer ist, wird ihm der noch ganz warme Napf gebracht, und er preßt ihn zwischen die Knie, ohne etwas zu essen, nur, um die Wärme in sich einströmen zu lassen. Das Fenster dort drüben über der Aula ist geschlossen. Aber das macht nichts. Von jetzt an kann er es notfalls entbehren. Seine Kehle ist wie zugeschnürt. Er möchte sprechen. Er möchte mit Holst sprechen, als wäre Holst hier.
    Da ist vor allem eine wichtige Frage, die er ihm stellen muß. »Wie haben Sie es begriffen?«
    Es scheint unmöglich. Es ist ein Wunder, daß so etwas möglich ist. Frank hat alles getan, damit er es nicht versteht. Er hat sich übrigens selber nicht verstanden. Er ist um Holst herumgestrichen und hat sich manchmal gezwungen, zu glauben, er hasse oder verachte ihn. Er hat über die Blechdose und die schlecht sitzenden Stiefel gelacht.
    Wann war das?
    War es in der Nacht, als Holst auf dem Heimweg vom Straßenbahndepot ihn mit dem Messer in der Hand dicht an der Mauer der Gerberei stehen sah?
    Er darf nicht weiter darüber nachdenken. Das erregt ihn zu sehr. Er muß ruhig bleiben, muß brav und still auf dem
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